Donnerstag, 28. Mai 2009

Markt für Prekarier

Eine merkwürdige Begegnung hatte ich heute, als ich nach der Arbeit auf den Wochenmarkt fuhr, um dort für Obst und Gemüse einen Stundenlohn zu verknattern. Ein älterer Herr sprach mich an. Unterm Arm trug er eine Tageszeitung, in der anderen Hand ein Klemmbrett mit Papier. Nein, ich will kein Abo, vielen Dank. Er lachte, "aber ich möchte Ihnen gar nichts andrehen." Sagen sie immer, wenn sie einem etwas andrehen wollen. Und tatsächlich, er drehte mir die Zeitung an, die er unterm Arm hielt. Als Geschenk, wie er sagte, "einfach so". Aha, gab ich zurück, ob er mir sein Klemmbrett nicht gleich dazu schenken wolle? Mitsamt dem vermutlich fast geschenkten Abo? Wieder lachte er. Wir kamen ins Plaudern. Der Mann sah bemerkenswert intelligent aus. Nicht jedem intelligentem Menschen steht ja die Intelligenz im Gesicht geschrieben; manchmal ist man ganz überrascht, wenn einer den Mund aufmacht. Dieser Mensch sah intelligent aus und war es. Ich ertappte mich bei der einfältigen Frage, wie ein so intelligenter, gebildeter Mann dazu kommt, Zeitungsabos auf der Straße unters Volk zu bringen. Hirn einschalten, Mrs. Mop!
Irgendwann fragte er mich, ob ich wisse, wer derzeit der beliebteste deutsche Politiker sei. Ich musste passen. Es sei, sagte er, der Wirtschaftsminister zu Guttenberg. Und zwar wegen seines, also Guttenbergs, "weltmännischen" Auftretens. Zumindest in der jüngeren Generation komme das Weltmännische gut rüber. In diesem Moment fühlte ich mich steinalt und fragte ihn, woher er das wisse, ob er eine Studie dazu durchgeführt habe? Sagt dieser Mensch doch glatt: "Ja", und ich, deppert: "Wie, Sie?", und er, lächelnd: "Ja, bei meinen Studenten.", darauf ich, perplex (die Einfalt hatte mich immer noch in ihren Krallen): "Wie, Ihre Studenten?" Es stellte sich heraus, dass er einen Lehrauftrag an einer Fachhochschule hat, Fachbereich Psychologie. Von dem er nicht leben könne. Was er auf der Straße als Promoter für eine Tageszeitung verdiene, sei für ihn mehr als nur ein Zubrot; es sei auch nicht sein einziger Nebenjob. Bei dem Wort Nebenjob lachte er wieder, über das Wort selbst: "Ja, neben was denn eigentlich? Das Wort suggeriert eine Ordnung, die es im Leben vieler Menschen schon lange nicht mehr gibt."
Dann fragte er mich noch, ob ich gerade meine Mittagspause verbringe, und ich verneinte, es sei bereits mein Feierabend. Oh, meinte er, das müsse aber ein frühes Arbeiten sein. Allerdings, pflichtete ich ihm bei, "ich komme gerade vom Putzen - neuer Nebenjob, wenn Sie verstehen." Er verstand auf Anhieb. Er brauchte dazu nicht so lange wie ich. Er sah mir direkt in die Augen, hielt einen Augenblick inne und sagte dann, gelassen lächelnd: "Ist normal." Ich war ihm unendlich dankbar dafür. 

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