Samstag, 31. Juli 2010

Positives Signal


Irgendwie kapiere ich die Mittelschicht nicht. Liegt vielleicht daran, dass ich mich dort nicht mehr so auskenne wie früher mal. Ich hör' da Sachen und les' da Sachen, da schlackere ich nur noch mit den Ohren. Schrumpft die Mittelschicht jetzt oder schrumpft sie nicht? Falls sie schrumpft, wo schrumpft sie dann hin? Hat sie Abstiegsängste oder hat sie keine? Macht sie sich gut oder macht sie sich was vor? Geht's ihr schlechter oder noch schlechter? Was denn jetzt? Gut geht's ihr, lese ich heute mal wieder:
Studien zeigen, dass die Polarisierung zwischen Arm und Reich weiter wächst. Die bestehende Mittelschicht hält sich aber recht gut. Sorgen bereitet eher die zunehmende Unterschicht.
und ich weiß auch nicht, warum es mir so vorkommt wie das Pfeifen im Walde; kann aber auch an meinem Kaffee liegen (kaufe neuerdings Unterschichtskaffee).

Doch, der Mittelschicht geht es gut, wirklich, also jedenfalls viel besser als man meinen könnte, gemessen daran, wie schlecht es der Unterschicht gehe, und das sei doch irgendwie beruhigend, vor allem deshalb, weil es der Unterschicht nicht nur schlecht, sondern immer schlechter gehe, und da sei es doch ein erfreuliches Zeichen, dass die Mittelschicht sich einer solchen Stabilität und Prosperität erfreue, nein, sie könne nicht klagen, die Mittelschicht, es hätte sie weit schlimmer treffen können, was heißt schlimm, es habe sie ja gar nicht schlimm getroffen, weit härter habe es die Unterschicht gebeutelt, also jetzt nicht bloß so armutstechnisch, sondern auch rein zahlenmäßig, weil die Unterschicht doch einigermaßen rasant anwachse und in immer kürzerer Zeit immer rasanter anwachse, und da sei es doch erstaunlich, wenn nicht nachgerade tröstlich, dass in der Mittelschicht keinerlei Schrumpfungsprozesse zu verzeichnen, demnach auch nicht zu befürchten seien, und wem das alles, so rein mengentheoretisch gesehen, nicht einleuchten wolle, der habe halt einen an der alarmistischen Waffel, und woher sich die gefräßige Krake Unterschicht letztendlich ihr Futter holt, auf dass sie stetig und womöglich bald exponentiell anwachse, ist uns doch so egal wie Nachbars Pisstopf. Was heißt uns - also denen, die so etwas verzapfen.

Also, ich weiß nicht, wenn ich Mittelschicht wäre, ich würde denen meinen Pisstopf vor die Tür kippen. Und würde vorher bei meinem Nachbarn klingeln und ihn fragen, ob er mitgeht.

Freitag, 30. Juli 2010

Textile Geschlechterforschung


Nichts ist mehr, wie es war. Kosmische Gesetze scheinen außer Kraft gesetzt: Seit das Fernsehen da war, trägt Frau Übermop schwarz. Schwarz!

Ich spreche von ihrer Schürze. Eine pechschwarze Schürze hat sie sich neuerdings um den Leib gebunden und sieht darin verdammt gut aus (Länge bis Mitte Schienbein, Bistroschürzen-Look). Unglaublich, was eine Änderung der Schürzenfarbe bewirken kann - Frau Übermop verkörpert pure Noblesse. Gravitätisch stolziert sie schwarzbeschürzt durchs Lokal und strahlt dabei eine unwiderstehliche Autorität aus, welchletzteres ihr zwar mit weißer Schürze auch stets gelungen ist, aber bei weitem nicht so elegant.

Ich selber war schon vor ein paar Monaten umgestiegen auf schwarze Schürzen, sehr zum Missfallen von Frau Übermop. Ich durfte mir wochenlanges Gelästere anhören, von wegen: Zu einer Putzfrau gehört nun mal eine weiße Schürze; man merke halt, dass ich kein Profi sei; einer guten Putzfrau gingen modische Aspekte sonstwo vorbei; eine gute Putzfrau sei nicht eitel, sondern fleißig, und dafür stünde, sozusagen symbolisch, die weiße Schürze. Punktum.

Beharrlich versuchte ich ihr klar zu machen, dass die Faktoren Fleiß und Eitelkeit in keiner Weise miteinander korrelierten, und falls sie anderer Meinung sei, möge sie das bitte nachweisen, qualitativ wie quantitativ, was ihr natürlich nie gelang, sie aber nicht vom Weiterlästern abhielt. Irgendwann hatte ich nichts mehr zu meiner Verteidigung vorzubringen, trug die schwarzen Schürzen aber weiter, und zwar bevorzugt die Kurzform (Mitte Oberschenkel), was Frau Übermop ein zweiter Dorn im Auge war (also früher, bevor das Fernsehen da war): Kurze Schürzen? Hast du sie noch alle? Geht überhaupt nicht. Wie sieht das denn aus? Du bist hier nicht im Service. Zieh dir eine anständige Schürze an. - Hat alles nichts genützt. Weil ich in puncto Sturheit der Frau Übermop mal locker das Wasser reichen kann.

Ich erinnere mich an eine Diskussion mit Frau Übermop in den ersten Wochen meiner damals neuen Tätigkeit, da ging es um die Farbe Weiß bei Schürzen. Schon damals hatte ich nämlich ein begehrliches Auge geworfen auf die schwarzen und dunkelroten Bistroschürzen und -schürzchen, welche ich täglich nach dem Trocknen zusammenlegte. Dekorative Teile sind das - aber no way, ich wurde zu Putzfrauenweiß verdonnert.

Wie eine weiße Schürze nach einer halben Stunde Monsterputz aussieht, kann sich jeder vorstellen, ohne dass Eitelkeit groß zum Thema erhoben werden müsste, weil, es gibt ja auch noch so etwas wie Ästhetik. Und genau das war der Punkt: Während ich für dunkelfarbige Schürzen plädierte, weil sie schmutzresistenter oder flecken'schluckender' sind, vertrat Frau Übermop den Standpunkt, gerade weil die Flecken auf einer dunklen Schürze weniger zu sehen sind, käme für eine Putzfrau nur eine weiße Schürze in Frage. Eben weil der Schürze anzusehen sein müsse, dass die Putzfrau bereits fleißig gewesen ist. Oh du edle Einfalt, mit welch stiller Größe du dich schürzest! Da muss man dann als Novizin erst mal durch.

Aber inzwischen, wie schon gesagt, tragen beide Bräute schwarz. Seit das Fernsehen da war. Mir entwich ein spontanes Kompliment: Steht dir echt gut, die Schürze. Darauf die Übermop, betont beiläufig: Was denn für eine Schürze? Ich so: Na, die schwarze. Frau Übermop, völlig unbeteiligt: Ach - die, die trage ich nur, weil die weißen alle noch im Trockner sind.
Was natürlich ein Witz mit Ohren ist, denn es stapeln sich in der Waschküche die weißen Schürzen bis unter die Decke, und natürlich weiß die Übermop, dass ich das weiß, und trotzdem zieht sie diese Nummer durch mit einem Pokerface, dass ich mich wundere, warum sie Putzfrau und keine Pressesprecherin geworden ist.

Das war gestern. Heute hat sie wieder eine schwarze Schürze getragen. Der Wäschetrockner ist, so weit ich informiert bin, intakt. Also bitte. Ich sag' dazu nichts mehr. Nur so viel: Das Fernsehen ist an allem schuld. Ist aber auch keine besonders neue Erkenntnis.


Donnerstag, 29. Juli 2010

Hund unter


So richtig gefallen ist der Groschen erst heute morgen, also jetzt.

Zur üblichen Morgenstund' - Sonnenaufgang, Kaffee auf Dachterrasse, Sauerstoffschock - fällt es mir wie Schuppen vor die Augen: Da hat doch glatt eine notorische Frühaufsteherin von einem passionierten Spätaufsteher einen Preis verliehen bekommen. Ja. Einen Preis! Also, keinen Preis fürs Frühaufstehen natürlich - wo wäre da der Sinn? -, sondern einen Preis dafür, dass die Frühaufsteherin übers frühe Aufstehen und verwandte Themen bloggt. Nehme ich jetzt mal an, zu meinen Gunsten, weil, wieso den Preis ausgerechnet ich bekomme, hat der Spätaufsteher nicht verraten, aber vielleicht muss er nochmal drüber schlafen.


Der Preis trägt einen Namen: Underdog. Finde ich gut. Passt. Sitzt. Hat Luft. Bekanntlich liegt ja unter meinem roten Sofa ein dauerschnarchender Hirtenhund, der auf den Namen Blues hört, aber nur dann, wenn er wach wird, was selten vorkommt (zum Verlinken darauf ist es mir leider noch zu früh). Irgendwie muss der Hund das mit dem Underdog im Traum aufgeschnappt haben, denn er hat tierisch gefiept und mit dem Schwanz über den Boden gewedelt und danach ein Wellness-Schnauf-und-Schnarchprogramm abgeliefert vom Feinsten.

Vom Feinsten, das ist mein Stichwort, denn vom Feinsten ist auch das Blog des Preisverleihers: Feynsinn. Ich fühle mich geehrt. Vor längerer Zeit habe ich mal einen Shout auf Feynsinn getrompetet, man kann ruhig sagen: eine Fanfare, weil ich ihn nämlich aus guten Gründen bereits auf meiner Blogrolle hatte, als ich noch gar nicht wusste, was eine Blogrolle ist. Nur, wie in aller Welt soll ich um diese Uhrzeit den Shout verlinken, der, um verlinkt zu werden, ja erst mal gefunden werden muss? Ich bin mir sicher, Flatter wird dafür Verständnis haben, wenn er die Uhrzeit dieses Postings sieht.

Ich glaube, damals hatte ich irgend so etwas geschrieben wie: Der Typ hat Haare auf den Zähnen vom Allerfeinsten. Also, nicht dass ich das genau so formuliert hätte, damals, auf keinen Fall; bestimmt habe ich mich gewählter ausgedrückt. Aber gemeint habe ich es so. Und tue es noch heute.

Um ehrlich zu sein, ich kann vor Stolz kaum laufen.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Reboot


Wenn ich schon keine Hauptrolle beim Fernsehen bekommen kann, so verdanke ich dem Fernsehen heute immerhin einen freien Tag. Es wird weiter gedreht im Restaurant - wer fragt da schon nach einer sauberen Küche. Mir dann auch egal. Bleibe ich halt zuhause und putze meine eigene Küche.

Jedenfalls habe ich mir das fest vorgenommen. Aber zunächst genieße ich den zweiten Kaffee, das ungezwungene häusliche Dasein im Schlafanzug sowie das frühmorgendliche Internet und komme zu dem Schluss: erst das Vergnügen, dann die Arbeit.

Ich stolpere über The Times Literary Supplement, wo von "abenteuerlichen Träumerinnen mit hinreißenden Namen" die Rede ist, von "Women who invented the twentieth century". Von Frauen, die Voltairine (!) de Cleyre hießen, oder Elsie Clews (Knäuel!) Parsons, oder Storm (!) Jameson, oder Mary Church (!) Terrell, oder Maggie Lena Walker (these boots are made for, you know...). Schwupp, schon sitzt der Ohrwurm im Gehörgang.

Die amerikanische Anarchistin Voltairine de Cleyre (muss einen pfiffigen Vater gehabt haben, der Vorname ist echt) hat es mir besonders angetan: Voltairine
...war eine glühende Verfechterin der freien Liebe. Niemals sollte es erlaubt sein, 'die Liebe zu vulgarisieren durch die verbreitete Unanständigkeit eines fortgesetzt engen Kontaktes'...
Ist das nicht umwerfend? Mein Kaffee wird kalt. Weiter:
...behauptete sie, die auch nie besonders erpicht auf Kinder war, sich über mütterliche Instinkte mokierte und die Kinderlosen verteidigte.
Wohlgemerkt, wir sprechen vom ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Oder die britische Sozialreformerin Clementina Black, die
...erklärte, das Fahrrad würde mehr für die Unabhängigkeit der Frauen tun als alles, was explizit diesem Ziel dienen sollte. *
und zwar deshalb, weil das Fahrrad es der Fahrerin erlaubte, den damals obligaten Anstandsdamen und Dienstmädchen flugs davonzuradeln. Unnötig zu erwähnen, dass ich ein glühender Fan von Frau Black bin, erst recht von Frances E. Willard, die so vernarrt war in ihr Fahrrad, dass sie es Gladys nannte und ein Buch schrieb How I Learned To Ride The Bicycle, aus lauter Trotz, weil ihre Freunde (sie hatte die falschen) behaupteten, sie sei zu alt, um Radfahren zu lernen. Da war sie zarte 53 Jahre alt.

Das Thema schlechthin um die vorletzte Jahrhundertwende war für diese renitenten Frauen die Klamottenfrage. Die Welt zu verändern, hieß damals zuallererst den rigiden weiblichen Dresscode zu knacken: raus aus den einschnürenden Korsetts, den langen Röcken und den albernen Handschuhen - rein in die bequemen Hosen, und dann nix wie aufs Fahrrad. Das Nachsehen hatte die Gouvernante im bodenlangen Gewand mit dem rüschenverzierten Sonnenschirm. Mein Schlafanzug freut sich.

Leider gab es zur damaligen Zeit noch keine anständigen Stiefel für Frauen, wie mir mein Ohrwurm zuraunt. Sehr schade.
These boots are made for walking
And that's just what they'll do
One of these days these boots are gonna walk right over you.
Ahh, diese Bläser im Background. Und dann diese knochentrockene Bassline. Zum Stiefelanziehen. Are you ready, boots? Start walking.


*Die Übersetzungen vom Englischen ins Deutsche wurden vom Perlentaucher übernommen.

Dienstag, 27. Juli 2010

Lokalfernsehen


Das Leben schreibt Geschichten, die glaubt kein Mensch.
Sind aber wahr, ich schwöre es.

Wie ich heute früh unausgeschlafen (die gestrigen Aufwallungen haben mich senkrecht im Bett stehen lassen) aufs Restaurant zu radle, trifft mich fast der Schlag: Das Fernsehen ist da. Mit mal locker 15 bis 20 Mann (und Frau), Kameras, so weit das Auge reicht, das Lokal von außen grell von Scheinwerfern angestrahlt - bitte, um sechs Uhr morgens! -, der Wahnsinn, und zwar der helle. Es riecht nach action, so was gefällt mir immer. Ich bin wach.

Drinnen eine noch wuseligere Szenerie: Kameras, Scheinwerfer, Kabelrollen, Leinwände und Menschen, Menschen, Menschen, von denen ich nur einen einzigen kannte, nämlich Frau Übermop, und die erkannte ich sofort an ihrer wadenlangen weißen Schürze, weil beim Fernsehen offenbar konsequent schwarz getragen wird.

Beim Betreten des Restaurants steuerte mich ein wichtig aussehender TV-ler - schwarze Jeans, schwarzes Polo - an und fragte mich höflich, ob ich die Geschäftsführerin sei, was ich zu meinem Leidwesen verneinen musste, worauf er leicht schwerenöterisch weiterfragte, ob ich die Frau des Geschäftsführers sei, was ich wiederum verneinte, wenn auch nicht zu meinem Leidwesen. Daraufhin verlor das schwarze Polo das Interesse an mir. Ich strebte weiter Richtung Küche.

Auf dem Weg dorthin fing mich eine wichtig aussehende Frau mit schwarzem Jackett und schwarzer Hornbrille ab und fragte mich, ob ich die Schauspielerin sei. Da ich inzwischen, wie gesagt, hellwach war, haben mich augenblicklich meine gestrigen Bühnenphobien eingeholt und ich konnte nicht anders als zu antworten: Ja, aber ich glaube nicht die, die Sie suchen. Die Hornbrille guckte irritiert. Mir war es für einen Moment lang wurscht. Dann meinte die Hornbrille verwirrt: "Wieso, Sie sind doch genau der Typ, den wir besetzt haben", eine Bemerkung, die mir keine Spur aus meinem Hangover herausgeholfen, vielmehr mich noch tiefer in die kurze Wahnvorstellung getrieben hat, dass ja eigentlich das Fernsehen ruhig mal einen Film über eine akademische Putzfrau drehen könnte, besetzt mit einer akademischen Putzfrau.

Na ja. Lange lässt sich so eine Halluzination nicht aufrechterhalten. Ich drückte mein grundehrliches Bedauern hinsichtlich der Verwechslung aus und strebte weiter Richtung Küche. Stieg wie ein Storch über Kabelsalate. Fast hatte ich es bis zum Kücheneingang geschafft, da empfing mich hinterm Tresen eine dreiviertelwichtig aussehende Frau mit schwarzem T-Shirt, einem schwarzen Klemmbrett in der einen sowie einem - ich kann nichts dafür - schwarzen Kugelschreiber in der anderen Hand. "Sie gehören zu den Komparsen, richtig!" Richtig - sie fragte nicht, sie stellte fest.

Es half nichts, auch von dieser meiner letzten Castingchance musste ich mich verabschieden. Hach, wäre ich gern Komparse gewesen; wenigstens Komparse. Es hat nicht sollen sein. Stattdessen quetschte ich das schwarze Klemmbrett aus, was hier eigentlich abginge.

Dreharbeiten zu einem Spielfilm, erfuhr ich. Aha, deswegen waren die ganzen Brauereilogos verhängt und Sonnenschirme entfernt worden. Von wegen Schleichwerbung, Product Placement, pfui. Etwa Tatort?, fragte ich hellauf begeistert, weil, das hätte mir schon gefallen, einen regional verdichteten Krimi an meinem Arbeitsplatz zu drehen, mit so bisschen Gastrofolklore. Ich weiß von gußeisernen Pfannen, denen das Potential fliegender Untertassen nachgesagt wird.

Nein, erklärte das Klemmbrett, es handle sich um einen eher leichten Filmstoff, zwar mit Problemhintergrund, aber am Ende werde alles gut. Die Hauptfigur, eine Frau, durchlaufe ein schweres Schicksal und habe es nicht leicht im Leben (wieso ist der Stoff dann leicht?), komme am Schluss aber mit heiler Haut davon (ach so). Mehr denn je interessierte ich mich für die Rolle der Hauptdarstellerin. Hielt natürlich den Mund. Frau Übermop guckte schon, wieso die ganzen TV-ler mich anquatschten. Wahrscheinlich weil ich keine weiße Schürze trug.

Weil die Küche zu einem völlig fachfremden Kabel- und Gerätelager umfunktioniert worden war, beließ ich dort alles im Urzustand und widmete mich der Kellerreinigung. Im Keller wird man von keinem TV-ler angequatscht, kann sich vielmehr so ungestört wie methodisch dem Wahn hingeben - das entspannt.

Kurz nach acht kam der italienische Feinkostlieferant stoßatmend die Kellertreppe herunter, beladen mit dreimal so vielen Gemüsekisten wie sonst. "Muss leise sein auf der Treppe, haben die Leute vom Fernsehen gesagt", keuchte er beim Absetzen der Kisten. Kurz darauf erschien der deutsche Hähnchenmann (so nennt Frau Übermop den Geflügellieferanten), auch er ein Opfer der Lärmschutzmaßnahmen, gefolgt vom Ehemann der spanischen Putzfrau aus dem ersten Stock, der vor dem "Wahnsinnskrach dieser Fernsehleute" geflohen war. Nur wenig später kam Frau Übermop die Treppe herunter, brummte kopfschüttelnd "...die haben doch alle ein Rad ab", und hockte sich auf die unterste Kellerstufe - etwas, was Frau Übermop sonst niemals machen würde.

Der Keller füllte sich. Zehn vor neun stand die senegalesische Küchenhilfe auf der Treppe: Die Fernsehfuzzis hätten ihr gesagt, sie dürfe die nächsten zwei Stunden keine Kartoffelgratins in der Küche zubereiten, weil der Backofen dringend als Zwischenlager für Spezialkabel benötigt werde und die beiden Spülen von Ersatzstativen blockiert seien. Mit genervtem Augenaufschlag ließ sie sich längs auf der zweituntersten Kellerstufe nieder, schlug graziös die unglaublich langen Beine übereinander, stützte das Kinn in die Hand und sagte gedehnt unter schweren Lidern: "Je m'ennuie." Ich langweile mich. (Französisch ist Landessprache in Senegal.)

Ich bekam erneut einen leichten halluzinatorischen Schub und fragte sie, ob sie Marlene Dietrich kenne. Moi, je m'ennuie. Sie fragte, wer Marlene Dietrich sei. Ich antwortete: So eine wie du, bloß in weiß. Sie lachte und meinte, sie könne sich nicht vorstellen, dass "cette Marlène" sich ihr Geld mit Gemüseschneiden in einer Restaurantküche verdiene.
Da war ich wieder im richtigen Film.

Montag, 26. Juli 2010

Rollenspiel


Schlechte Laune auf ganzer Breite. Fing schon beim Aufwachen an. Es trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben. Man hört ja dem Regen an, ob er gleich wieder aufhört oder sich anschickt, zum Dauerniederschlag zu werden. Im Bett liegend lauschte ich und wusste: Der Tag geht den Bach runter. Zumindest regentechnisch lag ich völlig richtig.

Andererseits ist schlechte Laune wegen schlechten Wetters bei den meisten Leuten nur eine schlechte Ausrede; warum sollte das bei mir anders sein? Weil, die letzte halbe Stunde hat es ausnahmsweise mal nicht geregnet, und was ist? Immer noch und trotzdem bracchial übellaunig, Tendenz steigend. Nützt alles nichts, ich muss wohl in mich gehen.

Dieses tat ich nach Beendigung meines Frühjobs, und siehe da, schon kam mir die Erleuchtung: Es steht mir nämlich heute noch ein Spätjob ins Haus; einer von denen, die ich bis vor ein paar Jahren mehrmals die Woche abgewickelt habe und die mir heute nur noch höchst selten, sprich alle paar (gefühlte) Schaltjahre in den Schoß fallen.

Ja, heißa!, ist das nicht toll? Endlich mal wieder ein Job, bei dem Köpfchen gefragt und Kohle im Anmarsch ist? Ja doch, toll ist das schon, und die Kohle ist mir mehr als willkommen, und überhaupt, sollte ich nicht vor lauter Tollheit bestgelaunt auf der Gardinenstange tanzen? Tue ich aber nicht. Stattdessen muffle ich vor mich hin, ich undankbares Stück.

Muffelnd stehe ich vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich heute abend anziehen soll. Muss ja irgendwie schick aussehen und was hermachen. Ich seufze, denke: wie anstrengend!, und entsinne mich dunkel meines Wäschepostings von neulich. Draußen fängt es wieder an zu regnen. Ich seufze tiefer, denn Regen bedeutet: Schicke Klamotten auf dem Fahrrad, die geschützt werden müssen, denn ich will ja nicht schick und durchnässt dort ankommen. Regenhose, Regenjacke, Kapuze sowieso und drunter ein südwesterähnlicher Regenhut für alle Fälle, weil, man muss ja dann auch an die Frisur denken. Gott, wie anstrengend.

Sind das jetzt Luxussorgen einer Luxusputzfrau? Kann schon sein. Im Moment geht es mir eher wie einer arbeitslosen Schauspielerin, die nach einer längeren Phase des Nichtgefragtseins endlich mal wieder ein Engagementchen ergattert hat, jetzt ratlos und überfordert in ihrer Garderobe steht und das dumpfe Gefühl hat, die Rolle sitzt nicht mehr so wie sie es früher einmal getan hat. Vom Rollentext ganz zu schweigen. Und keine Souffleuse weit und breit.

Keine Zeit mehr zum Rumnölen, denn ich muss mich jetzt auf die Suche nach meiner schicken Handtasche machen, welche bei meinem Umzug in irgendeine dunkle Kellerecke geflogen ist und heute mal wieder ans Tageslicht gezerrt sein will. Die Tasche werde ich dann in meinem Fahrradrucksack verstauen, welcher, wie ich heute früh betrübt feststellen musste, nicht mehr so wasserdicht ist wie er es einmal war. Was insofern schlecht ist, als auch noch ein Paar schicker Schuhe in den Rucksack gestopft werden muss, was aber nur Sinn macht, wenn sie genauso trocken rauskommen wie ich sie reingestopft habe. Sonst könnte ich ja gleich in Gummistiefeln gehen.

Und da soll ein Mensch keine schlechte Laune kriegen.

Update 22:57:
Wenn ich noch einmal, nur noch EIN EINZIGES MAL den Spruch höre "...da würde ich lieber putzen gehen", geäußert von Menschen mit manikürten Fingernägeln und perfekten Fönwellen, mit büroinduziertem Muskelschwund und einem Rundrücken, der in keinem Verhältnis steht zu ihrer kalendarischen Jugendlichkeit, von Menschen, die ihrem Alter an körperlicher und geistiger Unbeweglichkeit weit voraus sind, die sich selbstverständlich eine eigene Putzfrau halten und sich in den Teeküchen ihrer Angestelltenkäfige damit brüsten, wie "unglaublich billig" diese albanische oder jene rumänische Putzfrau ohne Papiere doch sei ("kann sich heutzutage jeder leisten"), während sie mit spitzen Fingern Lachshäppchen über Tellerchen balancieren und es fertig bringen, im gleichen Atemzug und im Brustton der Überzeugug zu prahlen "...da würde ich lieber putzen gehen" (lieber als was? Na, was wohl? Lieber als Hartz IV zu empfangen, was denn sonst), dann kann ich für nichts mehr garantieren, dann werde ich so sauer, dass ich vermutlich ausrasten und mich des Amoklaufes nicht enthalten können werde. Wollte ich nur mal angekündigt haben. Wozu habe ich ein Blog.

Sonntag, 25. Juli 2010

My Blue Heaven


Sonntags ist Museumstag. Gerade war ich in einem zauberhaften Museum zu Besuch, leider nur virtuell, dafür kostengünstig. Aber um dieses Museum live besuchen zu können, würde ich sogar meine allerletzten Kröten zusammenkratzen und dafür drei Tage lang nur Bohnen mit Reis essen.

Nichts gegen Bohnen mit Reis. Es war das Lieblingsgericht von Louis Armstrong und blieb es, selbst als er ein berühmter und gefeierter Musiker geworden war.
After all the time on the road, Louis said he was sick of eating filet mignon and the like, and really just craved some simple homemade comfort food,
erzählt eine langjährige Nachbarin von Armstrong im Stadtteil Queens, New York City. Dort steht Satchmos Wohnhaus - mittlerweile zum Museum umfunktioniert. Am zauberhaftesten finde ich die Küche: in unwiderstehlich leuchtendem, frischem Blau, und die Türen der Küchenschränke sind mit Klavierbändern montiert. Mit Klavierbändern!

Aber zurück zum bevorzugten bodenständigen Soul Food des Meisters. Louis Armstrong war in New Orleans aufgewachsen und liebte rote Bohnen mit Reis - so sehr, dass er seine persönlichen Briefe gern unterzeichnete mit
Red Beans & Ricely Yours! Louis Armstrong.
So sehr ich Satchmo verehre - aber ich hätte sonntags in der Kirche nicht hinter ihm sitzen wollen. Leave it all behind ya, man.

Auf jeden Fall hat der Trompeter und Sänger stets auf eine gute Verdauung geachtet. Ein Exponat in der Museumsküche legt davon Zeugnis ab:

Online-Tour mit Slideshow durch die Küche von Louis Armstrong bei thekitchn.com

Swiss Kriss, ein Abführmittel auf Kräuterbasis: Louis Armstrong nahm es gewissenhaft nach den Mahlzeiten ein und bot es einmal sogar bei einem Dinner den Mitgliedern der Britischen Königlichen Familie an; seine Vorliebe fürs Bodenständige beschränkte sich nicht aufs Essen.

Im Museum gibt es ein Rezept für Creole Red Beans (Kidney) And Rice nach Art des Hauses: Es war im Nachlass bei den persönlichen Notizen des Künstlers gefunden worden. Bemerkenswert ist Armstrongs Serviervorschlag am Ende des Rezepts:
To serve on dinner plate - Rice then beans, either over rice or beside rice, as preferred...Twenty minutes later - Bisma Rex and Swiss Kriss.
Down-to-earth waren auch die Selbstvermarktungsmaßnahmen des Künstlers: Seine persönliche Grußkarte (rechts) lässt keinen Zweifel an Satchmos deftigem, nicht immer salonfähigen Humor und an seiner Vorliebe fürs Durchgeknallte ("Swiss Krissly"!). Auch dafür liebe ich ihn.


Louis Armstrong bläst und scattet im Duett mit dem Trompeter Dizzy Gillespie Umbrella Man. Zwei bodenständige Musiker mit Sinn fürs Deftige, Komische. Einerseits genial, andererseits sehr, sehr lustig.

Samstag, 24. Juli 2010

Botox für alle



Seit einer halben Stunde rolle ich nur noch mit den Augen. Ununterbrochen. Ich kann gar nicht mehr aufhören. Wenn das so weitergeht, fallen mir bald die Augen aus dem Kopf.

Gottseidank mache ich das in meinen eigenen vier Wänden, innerhalb derer ich bekanntlich tun und lassen kann, was ich will, obwohl, soo sicher bin ich mir da inzwischen nicht mehr. Denn was, wenn irgendwo eine heimlich installierte Orwell-Kamera hängt, sagen wir, schräg oberhalb meines Computers, und mich beim Augenrollen filmt? Dann würde möglicherweise demnächst die globale Tugendpolizei bei mir klingeln und mich vom Blog weg verhaften. Wegen ungebührlichen Augenrollens. Gesetzeswidrig, gnädige Frau, Sie verstehen? Schon klicken die Handschellen. Kein Scherz.

Wer jetzt ungläubig mit den Augen rollt, dem sage ich: zu früh gerollt. Der kann froh sein, dass er nicht in Elmhurst im Staate Illinois, Vereinigte Staaten von Amerika wohnt. Dort kann er sich nämlich das Augenrollen bald abschminken. Dort arbeiten nämlich die Stadtväter (können auch -mütter darunter sein) mit Feuereifer an einem Gesetz, welches öffentliches Augenrollen strafbar macht - man könnte ja irgendjemandem zu nahe treten damit.

Offenbar gibt es in Elmhurst, Illinois sensible (Kommunal-) Politikernaturen, die es über die Maßen kränkt, wenn ein zuhörender Bürger während einer öffentlichen Stadtratversammlung mit den Augen rollt (man liegt sicher nicht daneben mit der Vermutung, dass eine ganz normale Elmhurster Stadtratversammlung einem ganz normalen Elmhurster Bürger jede Menge Augenrollen ins Gesicht treiben kann). Deshalb soll die impertinente, den öffentlichen Frieden störende (doch, doch: "...to provoke a breach of the peace") Volksgewohnheit des Augenrollens unter Strafe gestellt werden, vulgo verboten.

Ja, das ist zum Augenrollen, ununterbrochen. Wo doch das Augenrollen eigentlich nur die sublimierte Reaktion auf irgend etwas Strunzdummes ist: Man enthält sich des verbalen Kraftausdruckes, will aber nicht den ganzen Frust unexpressiv runterschlucken und aktiviert darum gezielt die Augenringmuskulatur. Oder meinetwegen reflexiv. Bei mir passiert das Augenrollen quasi reflexhaft, weil kein Tag vergeht, an dem ich mich nicht mindestens zehnmal genötigt sähe, mit den Augen zu rollen; manchmal ist es schlichte Notwehr. Wäre ich Elmhursterin, bekäme ich bestimmt lebenslänglich.

Aber okay, ich bin verhandlungsbereit: Ich zum Beispiel kann es partout nicht leiden, wenn jemand mit gewohnheitsmäßig nach unten gezogenen Mundwinkeln herumläuft; da vergeht mir alles, da fühle ich mich irgendwie, ja, doch, kann man so sagen - gekränkt. Also, wenn im Gegenzug die scheppen Mundwinkel geächtet und verboten werden, bin ich gerne bereit, mit dem Augenrollen aufzuhören. Ob mir das gelingen wird, ist eine andere Sache.

Aber selbst wenn ich wieder delinquent werden sollte, wäre das auch keine schlechte Perspektive, schließlich wanderten dann die anderen ebenfalls in den Knast. Also die, die das mit den Mundwinkeln nicht lassen können. Sind ja doch eine ganze Menge, nicht wahr, besonders an politprominenter Stelle. Und dann würden wir eben alle gemeinsam einsitzen - Gespräche auf Augenhöhe waren noch nie verkehrt.

Obwohl, ich käme wahrscheinlich aus dem Augenrollen überhaupt nicht mehr raus. Wobei noch nicht geklärt ist, ob Augenrollen hinter Gefängnismauern überhaupt strafbar ist. Ein Knastaufenthalt ist ja in dem Sinn nichts Öffentliches, trotz permanenter Videoüberwachung. Mir kann das dann egal sein, denn bis ich meine Höchststrafe abgebrummt haben werde, ist eh alles vorbei, und wenn ich nicht gestorben bin, dann rolle ich noch heute mit den Augen.



Freitag, 23. Juli 2010

Ihr Bequemschuh-Spezialist


Schuhe als Thema gehen immer. Besonders wenn sie rot sind. Erst recht wenn sie rot sind und aus Amerika kommen. Weil man ja denkt, alles Hippe kommt aus Amerika und wird deshalb auch im alten Europa Furore machen.

Was aber, wenn sich bei näherem Hinschauen herausstellt, dass die hippen roten Schuhe gar nicht aus Amerika kommen, sondern aus Deutschland? Wo sie allerdings ein ungeliebtes, weil orthopädisch kontaminiertes Dasein fristen und als Alte-Damen-Treter verunglimpft werden (nein, nicht zum Alte-Damen-treten, so weit kommt's noch.)

Anders in Amerika.

Was in Deutschland - dem Phänomen lilafarbener Unterwäsche nicht unähnlich - gern als modisch absolutes No-go und 'letzter Versuch' gebrandmarkt wird, gilt drüben als letzter Schrei. Überschrift bei Slate:
How an obscure German orthopedic sandal became chic.
Erzählt wird die aktuelle Erfolgsgeschichte des Bad Wörishofener Gesundheitsschuhs - drüben, nicht hüben. Die Autorin ist bekennender Worishofer-Junkie und outet sich nicht ohne Stolz:
"I am frequently complimented on my Worishofer slingback sandals."
Während der fußgesunde Komfortschuh sich hierzulande an Trägerinnen unter 50 - namentlich den modisch orientierten - eher öffentlichkeitsscheu verhält, schnellen in Amerika die Verkaufszahlen bei den unter 40-jährigen Schuhfreaks nach oben, bei den unter 30-jährigen explodieren sie nachgerade. Dort sieht man den gesunden Piefkeschuh immer öfter an den nackten Füßen von Celebrities aus Film und Fernsehen, bevorzugt in rot. Und das im Land der Manolo-Blahnik-Stöckelböcke (= hohe Absätze, hohe Preise).

Wie man liest, reißen sich die New Yorker Edel-, In- und Trendboutiquen um den ältlich daherkommenden deutschen Urtyp; der Worishofer Oma-Look gilt als ultracool. In amerikanischen Großstädten, in denen täglich endlose Strecken zu Fuß zurückgelegt werden, schwören berufstätige Frauen auf das funktionale Wörishofer Fußbett.

Hierzulande schwören darauf höchstens die Mädels im gastronomischen Service. Und auch dies nicht flächendeckend - eine Kleinstumfrage am Arbeitsplatz erbrachte signifikante Ablehnungswerte: Von hochgezogenen Augenbrauen bis "pfft, Hühneraugenschuhe" war alles dabei; Glamourfaktor gleich null.

Wobei sich ja in Wirklichkeit Stöckelböcke und Hühneraugenschuhe keineswegs ausschließen, im Gegenteil: Das eine führt geradewegs zum andern. Erst waren es die high heels an den Killerstilettos, jetzt sind es halt die hohen Absätze bei Hühneraugenschuhen. Womöglich stecken beide Hersteller unter einer Decke.

Donnerstag, 22. Juli 2010

Kratzspuren


Es kam, wie es kommen musste.

Heute früh empfing Frau Übermop mich mit den Worten: "Wie siehst du denn aus?", und ohne eine Antwort abzuwarten (macht sie gerne), bohrte sie weiter: "Warst du mit dem Brasilianer im Urwald oder was?" Ist jetzt nicht exakt das, was mich morgens um sieben Uhr in Stimmung bringt. Ich bewahrte Haltung und sagte: "Ich war in den Brombeeren", was von Frau Übermop entwaffnend quittiert wurde mit: "Im Urwald gibt es keine Brombeeren." Gegen die Übermop'sche nichtlineare Logik bin ich machtlos.

Eine Stunde später fragte mich der brasilianische Bierlieferant: "Wie siehst du denn aus?", und er wirkte fast ehrlich betroffen dabei, aber eben nur fast, denn nachdem ich ihm geantwortet hatte: "Ich war in den Brombeeren", drehte er voll auf: "Wie, ohne mich? Du weißt doch, dass ich dir das verboten habe!" Auch dies ein Gutelaunemacher erster Güte.

Wieder eine Stunde später erschien ein Geschäftsführer, schaute mich erschrocken an und fragte: "Wie siehst du denn aus?", und ohne eine Antwort abzuwarten (macht er gerne), fragte er weiter: "Hattest du dich mal wieder mit Frau Übermop in der Wolle?" (was öfter vorkommt als es hier im Blog Erwähnung findet). Nicht ohne Mühe bewahrte ich Haltung und brummte so etwas Ähnliches wie "schon gut, die einen gehen in die Oper, die anderen in die Brombeeren", was, wenn nicht alles täuscht, der Geschäftsführer witziger fand als ich.

Vor einer halben Stunde war ich in meinem kleinen Supermarkt in der Nachbarschaft, um Gelierzucker zu kaufen (heute war zweite Ernte, ich sag' jetzt nicht, von was). Der Besitzer, ein Bosnier (er kennt mich inzwischen), schaute mich neugierig an, schwieg aber. An der Kasse standen zwei Frauen zum Bezahlen, die eine mit Kopf-, die andere mit Ganzkörpertuch, und beide musterten mich verhohlen aus den Augen- oder besser Tuchwinkeln, schwiegen aber.

Irgendwie ging mir das Schweigen im Laden noch mehr auf den Wecker als die Fragerei im Restaurant. Ich tippte auf den Gelierzucker und dann auf meine zerkratzten Arme, die Miene des Bosniers hellte sich schlagartig auf, strahlend rief er: "Ahh!, ...", es folgte ein fremdländisches Wort, zu dem er sich genüsslich mit der flachen Hand den Bauch rieb, "Marmelade bleibt, das da" - er zeigt auf die Kratzer - "das da vergeht wieder, schneller als du Marmelade essen kannst!"

Ich fühlte mich verstanden. Die Damen in Tuch schwiegen weiter.

Nächstes Mal gehe ich mit Burka in die Brombeeren.

*

Noch was.

Hat absolut nichts mit Brombeeren zu tun, mich aber ebenfalls den ganzen Tag verfolgt: Soul Shadows. Gesungen von dem wundervollen Nils Landgren, der überhaupt nicht singen kann und wundervoll singt. Wenn er nicht gerade Posaune bläst; eine rote Posaune übrigens. Ich singe das Lied schon den ganzen Tag, keine Ahnung warum. Es wird schon einen Grund dafür geben. Soul shadows. On my mind.

Mittwoch, 21. Juli 2010

Play It Again, Sam


Es gibt ja nichts Schlimmeres als Leute, die sich dauernd wiederholen, ohne dies zu merken. Oft empfindet man das Erzählte bereits beim ersten Hören als hinreichend redundant, aber in der Wiederholungsschleife wird es dann zur echten Herausforderung, und irgendwann legt sich die Schleife wie eine Schlinge um den Hals. Flüchten oder standhalten, heißt dann die Frage, und irgendwann will man bloß noch eines: seinen Kopf wieder aus der Schlinge rauskriegen.

Wenn mir beispielsweise, während ich gerade Handtücher zusammenlege, ein Geschäftsführer erzählt, dass er gestern in der Oper war, ist das an und für sich eine tolle Geschichte. Man hört ja immer wieder gern, was andere Leute so erleben. Erzählt mir tags darauf derselbe Geschäftsführer, dass er vorgestern in derselben Oper gewesen sei, wird das Ganze zum Härtest, vor allem, wenn ich gerade fensterputzend oben auf der Leiter stehe und es obendrein irre heiß ist, was bekanntlich oben auf einer Leiter noch irrer heiß als ist am unteren Ende derselben. Was tun?

Freundlich im Umgang - hart in der Sache, habe ich mal gelernt und flöte freundlich aus hitzigen Höhen, dass er mir dasselbe schon gestern erzählt habe. So etwas höre er aber gar nicht gern, bekomme ich als Antwort, was ich wiederum sehr gut verstehen kann, weshalb ich freundlich zurückflöte, dass ich das sehr gut verstehen könne. Damit war der Fall erledigt, es herrschte weiter eitel Sonnenschein im Überfluss, und zum Diskutieren ist es eh zu heiß.

Ich selbst hasse es auch wie die Pest, gesagt zu bekommen, dass ich mich wiederhole. Gottseidank passiert das nicht allzu häufig, aber jedes Mal ist einmal zu viel. Bei der Vorstellung, bloggend in so einer Wiederholungsschleife hängen zu bleiben und es womöglich nicht zu merken, wird mir ganz übel.

Aus diesem Grund verkneife ich es mir strikt, hier und jetzt von den vielen Kilos Brombeeren zu erzählen, welche ich heute auf dem Heimweg im wilden Dornendickicht erbeutet habe. Weil, Brombeerenpflücken und Mirabellenaufklauben waren vor Jahresfrist hier schon mal Thema gewesen (mir ist grad zu heiß zum Verlinken), das sollte reichen. Obwohl es ja dieses Jahr ganz anders ist als letztes Jahr, denn heuer gibt es eine gigantische Brombeerschwemme, dank der großen Hitze, welche wiederum der erhofften Erdbeerschwemme den Garaus gemacht hat. Man muss es nehmen, wie es kommt, gleich werde ich Brombeermarmelade kochen, sobald der Text hier zu Ende geschrieben ist, was noch dauern kann.

Immerhin ist das Thema Brombeeren damit für diese Saison abgehakt, zumindest blogtechnisch (im wirklichen Leben keineswegs, denn ich schaue aus, als ob ein Rudel räudiger Katzen im Tollwutrausch über mich hergefallen ist, werde mich also den Fragen von Mitmenschen stellen und betonen müssen: Weißt du, ich war in den Brombeeren.) Auch die Mirabellen sind kein Thema mehr, da sie vor einer Stunde bereits punktiert und in Prosecco versenkt wurden und ebenfalls keiner drögen Wiederholungsschleife bedürfen.

Mann Mann Mann. Eigentlich wollte ich auf etwas völlig anderes hinaus. Etwas, was mit Obst und Oper überhaupt nichts zu tun hat, aber mal rein gar nichts. Sondern mit - ich trau es mich kaum zu sagen - dem Thema "Verzicht inklusive", anders gesagt, mit jenem neumodischen Luxus des Verzichtens, von welchem hier bereits mehrfach zu lesen war - und, schnapp!, schon klappert die Wiederholungsschleifen-Falle mit ihrem dritten Gebiss...

...ja doch, schon wieder, ich kann ja auch nichts dafür, dass in der Frankfurter Rundschau heute so ein klasse mundwässernder Kommentar zum Thema erschien; bestünde Satire aus Fettröpfchen, der Kommentar würde triefen. Mal reinhören?
Ich habe den Eindruck, je erfolgreicher man im Beruf ist, desto schwerer macht man es sich im Alltag. Zum Beispiel...dem nächtelangen Herstellen von Pasta mit einer in Einzelfertigung hergestellten mundgeblasenen Nudelmaschine aus biologisch abbaubarem Gusseisen.
Mhm, süffig. Weiter:
Wer sich alles leisten kann, fährt zur Selbstgeißelung ins Schweigekloster; wer knöcheltief im Dispo steht, besucht Poolpartys auf Ibiza.
Mhm. Macht Lust auf mehr. Der Autor erzählt von seinem netten Nachbarn Thomas, der
...hat sich zum Beispiel letztes Jahr einen Parkettboden für 180 Euro pro Quadratmeter in seine Kanzlei legen lassen. Damit ihn seine Klienten aber nicht als Prahlhans ansehen, hat er die Maserung des Holzes absichtlich so gewählt, dass jeder Nichteingeweihte denkt, es sei Laminat.
Abgründig gut. Und als Absacker:
Das ist die wahre Rache des Kapitalismus.
Schmeckt wie Sünde.

Sünden sind lecker, wenn man rechtzeitig mit ihnen aufhört, deshalb darf nach so vielen Ehrenrunden mein Luxusthema jetzt erst einmal ruhen; hoffentlich schaffe ich das. Weil, wenn es mich wieder überkommt, was ja häufig der Fall ist, wird es mir bestimmt schwer fallen an mich zu halten.

Ich gehe jetzt Brombeermarmelade kochen.


Wieso steigt eigentlich, proportional zur Affenhitze, die Länge meiner Blogtexte? Ist schon wieder so ein ellenlanges Brett geworden. Ich werde mir doch keinen Magen-Darm-Virus eingefangen haben? Aber vielleicht ist das ja eine ganz normale Reaktion, so rein vegetativ gesehen - man könnte fast sagen: Bloggen bei Hitze ist wie Schwitzen. Doch, kommt hin.

Dienstag, 20. Juli 2010

Ist das angekommen?


"Endlich ankommen."
Ist das nicht ein toller Werbeslogan? Will das nicht jeder, ankommen? Egal wo oder bei wem, Hauptsache ankommen? Endlich, endlich ankommen. Nach langer Mühsal.

Man denkt ja dann an so Pilgerreisen und Wüstenwanderungen und Oasen, vielleicht auch an den bald erklommenen Gipfel, vielleicht auch an ein bisschen Meditieren oder an alles mögliche, um zu sich selbst zu finden, daran, zur Ruhe zu kommen oder sich zur Ruhe zu setzen, je nachdem, daran, es geschafft und sein Ziel erreicht zu haben, endlich nach Hause zu kommen, ein Nest zu bauen und mindestens einen Baum zu pflanzen, man denkt an Sicherheit, an Belohnung, an Aufatmen, an immerwährend, an Endstation Sehnsucht, auf dass ein großer Friede einkehren möge. Notfalls reichen auch zwei Wochen Mallorca.

Endlich ankommen. Wer will das nicht. Doch, ich auch. Auch ich würde gern endlich ankommen, aber wenn mich jemand fragte: wo?, käme ich in Verlegenheit. Manchmal erstaunt es mich selbst, wie sehr ich mich an mein unstetes Leben gewöhnt habe; ich fühle mich sozusagen im Unterwegssein zuhause und nehme das auf der Stelle wieder zurück, weil es so bescheuert pathetisch klingt - als Pilger fühle ich mich nämlich weißgott nicht, obwohl meine Reise schon ziemlich beschwerlich ist.

Statt anzukommen schweife ich ab, drum komme ich jetzt endlich zur Sache:
"Endlich ankommen. Zentral. Nachhaltig. Luxuriös."
Stand da in großen Lettern an einem Bauzaun, und ich verwünschte den Tag, an dem ich meine Kamera im Regen liegen gelassen hatte.

Gut rübergebracht, das Eigentumswohngefühl des modernen Städters mit dem nötigen Kleingeld und dem richtigen Bewusstsein. Kommt bestimmt gut an. Und da ist er auch schon wieder, der immer mehr im Alltag ankommende Allerweltsspruch Weniger ist mehr, diesmal in der Variante
"Weniger (CO2) ist mehr (Klimaschutz)"
wogegen absolut nichts einzuwenden ist, auch wenn der nächste Spruch schon wieder verdächtig nach den Besseren unter den Guten klingt:
"Als Eigentümer einer Wohnung im XYZ sind Sie beim Klimaschutz fein raus",
wogegen aber auch nichts einzuwenden wäre, folgte dem nicht der Spruch
"...nicht zuletzt das gute Gefühl, Teil der Lösung zu sein",
aha, verstehe, wer weniger "deluxe" wohnt, muss sich mit dem schlechten Gefühl abfinden, Teil des Problems zu sein. Welchen Problems? Na, des Klimas! Der Umwelt! Überhaupt! Damit keine Missverständnisse aufkommen, was das für Leute sind, die im XYZ endlich ankommen wollen oder zumindest sollen, folgt der nächste Spruch auf dem Fuße:
"Prozent der XYZ-Eigentümer, die etwas für unser Klima tun: 100."
So schafft man Eliten. Wem das jetzt immer noch nicht klar geworden ist, muss sich an den Bauzaun stellen, dort wird es ihm mit einfachen Worten verständlich gemacht:
"Luxus ist, wenn Ihr Geschmack zur Maxime wird."
Ah, diesen letzten Spruch bitte auf der Zunge zergehen lassen! Sind Zweideutigkeiten nicht etwas Wundervolles? Zur Maxime für wen?
Ist angekommen, danke.

Montag, 19. Juli 2010

Postzustellungswesen


Eine halbe Sekunde.
Heute hat mir jemand eine halbe Sekunde seines Lebens geschenkt.
Um korrekt zu sein, war es keine halbe, sondern nur 0,46 Sekunden.

Gegen zehn Uhr betrat schweißüberströmt der Postbote das Restaurant. Um die Zeit ist das Restaurant angenehm von Rolläden abgedunkelt, während draußen schon wieder an die 30 Grad kochen. Müde ließ sich der Postbote auf einen Stuhl fallen, seufzte langanhaltend und bat um einen Kaffee und ein Mineralwasser. Als beides vor ihm stand, griff er in seine Umhängetasche und fischte ein kleines Päckchen mit einer Produktprobe heraus: Ein neuartiges Anti-Schuppen-Shampoo von einem Hamburger Kosmetikkonzern. Die Umhängetasche quoll fast über vor lauter Anti-Schuppen-Shampoo-Produktproben.

Er schob das Probepäckchen über den Tisch zu mir hinüber. Ich freute mich, obwohl ich nicht unter Schuppen leide, aber solange ich keine Schuppen kriege von dem Shampoo, sind mir solche kleinen Aufmerksamkeiten willkommen. Wir kamen ins Plaudern. Ich erfuhr, dass für den Transfer einer Wurfsendung (zum Beispiel einer Produktprobe) an den Empfänger exakt 0,46 Sekunden vorgeschrieben sind, keine Nantelsekunde länger. Natürlich steht es dem Briefträger frei, für diesen Vorgang doppelt, dreifach oder zehn Mal so lange zu brauchen, aber das ist dann sein Problem. Bezahlt wird er für 0,46 Sekunden.

Bezahlt, das heißt vom Zeiterfassungssystem anerkannt, wird lediglich der Moment des Einwerfens oder -schiebens in den Briefkastenschlitz. Allein die Zeit, die der Briefträger braucht, um seine Hand vom Briefkastenschlitz wieder zurückzuziehen, wird nicht berechnet, also nicht bezahlt.

Mein Besucher von der Post machte eine slapstickhafte Stakkatobewegung mit dem rechten Arm und meinte, das hätte ich bestimmt schon öfter gesehen: Ein Bote stünde mit dem Körper ganz dicht gedrängt vor den Briefkästen eines Hauses, beide Hände unmittelbar vor den Schlitzen, in der linken Hand einen Stapel Zeug, mit der rechten Hand in maschineller Geschwindigkeit Objekte einwerfend - Wurfsendungen eben. "Das spart überflüssige Bewegungen", erklärte der Postler, "und ob ich das Einwerfen im Winter mit oder ohne Handschuhe mache, ist dem Zeiterfassungssystem egal. Oder wie lange ich brauche, um im Regen die Folie der einzelnen Pakete aufzureißen."

Ich hatte ziemlich zu kauen an den 0,46 Sekunden. "Für 3.000 Wurfsendungen in der Woche bekommen wir 21 Minuten vergütet", konkretisierte der Mann. Ob Mittel- oder Hinterhaus, spiele keine Rolle, berechnet werde nur der Briefkasten zur Straße hin. Muss das Postzustellungswesen zu einem Tor hinein, um an die Briefkästen zu kommen? Sein Problem. Muss es um das Haus herumgehen ("alle Briefträger hassen Einfamilienhäuser")? Sein Problem. Sind im dritten Hinterhof etwa auch noch Briefkästen? Sein Problem.

"Die meisten Leute denken ja", fuhr der Postbote fort, "diese faulen Briefträger, die sollen sich nicht so anstellen, das bisschen Papier von hier nach dort zu tragen...". Ich schwieg und überlegte, wie oft ich schon einen Postboten verflucht hatte, der mir einen Benachrichtigungszettel in den Briefkasten geworfen hatte anstatt bei mir zu klingeln (vierter Stock!). Der Mann von der Post schaute mich aufmerksam an und erriet lächelnd meine Gedanken. "Mach dir nix draus", sagte er freundlich. Ich schämte mich.

Bevor er aufbrach, ging er noch rasch zur Toilette. Die Tür hinter ihm hatte sich schon fast geschlossen, da streckte er nochmal den Kopf heraus; sein Schnauzbart verzog sich zu einem lustigen Grinsen, als er sagte: "17 Sekunden fürs Pinkeln - mehr ist nicht", und als ich ungläubig dreinschaute, setzte er sarkastisch nach, "unter Verstopfung darf man in unserem Job nicht leiden, sonst hat man noch mehr unbezahlte Überzeiten!"

Es waren höchstens zehn Minuten, die wir miteinander geplaudert hatten. Muss erwähnt werden, dass der Postbote diese kurze Pause selbstverständlich nicht bezahlt bekommt? Ich schon.

Es gibt Tage, da will es mir so vorkommen, als wäre ich noch längst nicht im Prekariat angekommen. Allenfalls an seinen Rändern.

Sonntag, 18. Juli 2010

An die Wäsche


Benjamin!
Ich hab' nichts anzuzieh'n!
Mein letztes Kleid ist hin.
Ich bin so arrrm.
Heute ist Waschtag. Unbedingt. Sonst habe ich nichts mehr zum Anziehen. Zwei Maschinen, eine für hell, eine für dunkel. Ist jetzt kein besonders prickelndes Thema für ein Posting, aber was soll man machen, auch die schnöden Niederungen des Alltags wollen durchschritten sein, also rein mit der schmutzigen Wäsche, denn sonst habe ich nichts mehr zum Anziehen.

Was natürlich kackdreist übertrieben ist von mir; es wäre noch mehr als genug da zum Anziehen. Wäre. Fakt ist aber, dass ich darauf keine Lust habe. Ich mag nur die Sachen anziehen, die jetzt nicht gehen, eben weil sie in der Schmutzwäsche sind. Ist jetzt auch kein besonders selten auftretendes Phänomen, aber heute habe ich mich zum ersten Mal bewusst damit beschäftigt, während ich die Wäsche auseinandersortierte, hell rechts, dunkel links.
Im roten Crèpe de Chine
kann ich doch nirgends hin.
Dass Gott erbarm'.
Tatsächlich, es hängen saucoole Klamotten im Schrank, zwar nicht aus Seidenkrepp, aber anziehen mag ich sie trotzdem nicht und nirgends hingehen mit ihnen erst recht. Ich ließ die Bügel durch die Finger gleiten und stellte fest, dass vieles, was ich noch vor ein paar Jahren begeistert am Leib getragen habe, mir heute immer noch gut gefällt, aber am besten auf dem Kleiderbügel. Zum Anziehen wäre es mir zu...ich suchte nach einem Wort, und alles, was mir einfiel, war: zu anstrengend.

Zu anstrengend, diverse Ober- und Unterteile probeweise miteinander zu kombinieren zwecks Erreichen des optimalen Outfits. Früher hat mich das nicht angestrengt, sondern, tja, wieder suchte ich nach einem Wort, aber alles, was mir einfiel, war: Ich fand die ganze Aufschnatzerei halt früher nicht anstrengend. Vermutlich habe ich es sogar gerne gemacht. Doch, so muss es wohl gewesen sein, nur kann ich mich eben nicht mehr daran erinnern.
Benjamin!
Das musst du auch ver-ste-hen,
Benjamin!
Ich kann ja nackt nicht ge-hen!
Stück für Stück schaute ich mir die Teile an, die ich in die Maschine stopfte, meine Basic-Garderobe also, meine Lieblingsstücke, ohne die ich weder das Haus verlassen noch drin bleiben mag: T-Shirts in Unmengen, vorzugsweise XXL (nein, die letzten Jahre haben mich nicht zugefettet, meine Konfektionsgröße liegt immer noch am anderen Ende der Skala) und vorzugsweise alt, wobei die T-Shirts nicht wirklich alt sein müssen, aber keineswegs neu aussehen sollten, alles andere führt zum Ausschluss.

Kurze Hosen, ein paar Jogginghosen, Jeans, was sonst. Trug ich je etwas anderes als Jeans? Gegencheck vor dem Schrank: Ich besitze un-glaub-lich viele Hosen, was mich jedoch (in besseren Zeiten) nicht davon abgehalten hat, mir alle Naselang eine neue Hose zu kaufen. Da liegen sie nun gestapelt, und das einzige, was mich interessiert, sind Jeans, und zwar immer dieselben zwei, drei Stück; die restlichen gefühlten zwanzig lassen mich kalt - sie passen, sie sitzen perfekt am Hintern, sie schauen saucool aus, aber sie sind mir zu anstrengend. Irgendwie.
Benjamin!
Hab' ich nichts anzuziehn,
nehm ich mein Negligé
und geh.
Dazu muss man wissen, dass als Negligé früher (also ganz früher, also lange vor meiner Zeit) das galt, was das Wort tatsächlich bedeutet: ein vernachlässigter Outfit. Denn - nein, auch zum Schluss wird es nicht prickelnder - im späten 17. und 18. Jahrhundert wurde "jede nicht-formelle, nicht-höfische Kleidung" als Negligé bezeichnet (Wikipedia). Auf gut deutsch, man konnte rumlaufen, wie man wollte.

Inzwischen ist die Wäsche getrocknet. Meine Güte, zwei Maschinen, das ist ein Haufen Negligés. Endlich habe ich wieder was zum Anziehen.

Samstag, 17. Juli 2010

Postmoderner Paukenschlag


Ein Meisterstück. Ich bin auf ein Meisterstück gestoßen, das mich vor Begeisterung so umgehauen hat, dass ich es nicht für mich behalten kann.

Was für ein Fund. Da gibt es jemanden, der den gestalterischen Puristen und Nachhaltigkeitsaposteln unserer Tage ein wenig genauer auf die Finger schaut: Das Blog Designline setzt sich kritisch auseinander mit der sogenannten Puristenfraktion im Designerlager.
Schlicht, schlichter, moralisch gut,
notiert der Autor Norman Kietznann das herrschende Designdogma und hinterfragt:
Doch wie aufrichtig kann Gestaltung sein, die selbst mit einem erhobenen Zeigefinger daherkommt?
Dong! Das sind Fragen, die sitzen. Zwar begrüßt Kietznann die Abkehr von schnellebigen Trends im Möbeldesign und weiß jene Abkehr gesamtgesellschaftlich einzuordnen:
Das krisenbedingte Bedürfnis nach mehr Sicherheit verlangt nach einer Formensprache, die nicht auf schnellen Effekt oder gar offensive Erotik setzt, sondern mit klaren, zeitlosen Formen eine gute Kaufentscheidung verspricht.
Was es jedoch mit der versprochenen "guten Kaufentscheidung" auf sich hat, wird vom Autor gnadenlos zerpflückt, denn für ihn
...wird das Kalkül hinter den neuen Werten umso offensichtlicher. Während mit dem Kauf eines minimalistischen Einrichtungsgegenstandes bewusst an die Vernunft appelliert wird, wird der Luxus in Zeiten der Rezession wieder verdaulich gemacht. Wenn sich der Großteil aller puristischen Sofas in einem Preisniveau bewegt, das erst im fünfstelligen Bereich zum Tragen kommt, und selbst ein schlichter Esstisch mit vier Stühlen für kaum weniger zu erstehen ist, relativiert sich die Betrachtung des vordergründigen Verzichts.
Paukenschlagmäßig gut auf den Punkt gebracht, nochmals dong. Wenn Purismus erst im fünfstelligen Bereich zum Tragen kommt, ist es dann noch Purismus? Zweifel sind angebracht:
Die puristische Form, die auf der moralisch sicheren Seite zu stehen scheint, bekommt einen leicht bitteren Beigeschmack, der die Frage der Moral außer Kraft setzt.
Und dong, die dritte. Dann spielt der Autor auf die Retro-Verliebtheit vieler ins Puristische vernarrter Designer an und entlarvt deren Neigung, die frühe Moderne mit ihrer ebenfalls klaren Formensprache zu verklären; die Klarheit der Form, so Kietznann, sei in jener Epoche vor allem eines gewesen:
Ausdruck eines gesellschaftlichen Programms und keine Strategie des Verkaufs. Die vermeintliche Detox-Kur der heutigen Entwürfe ist kaum mehr als ein verlängerter Aufenthalt im Schönheits-Salon. Kosmetik mit gutem Gewissen, die sich mit dezenten Tönen so lange bedeckt hält, bis die Umstände wieder ein feuriges Rouge zulassen.
Oh Mann, ist das gut gedongt. Detox-Kur, was für eine geniale Metapher (nach der ich allerdings erst googeln musste, um festzustellen, dass heutige Leserinnen von Frauenzeitschriften sich mit der größten Selbstverständlichkeit über Sinn und Zweck von Detox-Kuren austauschen; eventuell eine Langzeitfolge von zu vielen Botox-Kuren?).

Dann zitiert der Mann an der Pauke noch einen ausgewiesenen Experten für Designgeschichte, den Kurator der Ausstellung "Essenz der Dinge" im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, Mathias Schwartz-Clauss:
'Ob es sich um Luxus, Armut oder Askese handelt, um Verzicht als Variante des Überflusses, um Entbehrung, etwa unter Bedingungen von Haft, um Enthaltsamkeit als spirituelle Haltung im Kloster oder spartanische Strenge als totalitäre Unterdrückung - die Semantik reduzierter Formen ergibt sich vor allem aus dem Kontext, in dem sie uns erscheinen.'
Mehr dong geht nicht: Begriffe bedürfen der kontextuellen Abklärung, sonst taugen sie nichts, weder für den Diskurs noch für werberisches Wortgeklingel. Werde ich mir merken, wenn ich demnächst mal wieder über puristisches Gebaren meine herziehen zu müssen.

Doch, halt, ein Dong geht noch: Ein mich begeisternd kluger Kommentator bei Designline merkt an:
Der "erhobene" Zeigefinger ist heute visueller Code der dogmatisch-belehrenden und drohend-aufdringlichen Fundamentalisten. Der Purismus - wenn es ihn denn wirklich gibt, und es gibt Gründe für Zweifel - hat ein anderes Ziel angesteuert und "Weniger ist Teurer" thematisiert und pragmatisiert.
Ich persönlich hätte denselben Sachverhalt - womöglich puristischer, aber deutlich toxischer, weil betroffener - so ausgedrückt: Jetzt nehmen sie uns sogar unsere Armut weg.

In Demut verneige ich mich vor so viel meisterlich-analytischer Klarsicht und schlackenfreier Sprachgenauigkeit von Autor samt Kommentator.

PS:
Das Auffinden des Meisterstückes verdanke ich dem Perlentaucher. Der hatte gestern auf einen Beitrag von Designline verlinkt, der sich mit der sogenannten Q Drum beschäftigt, einem jüngst entwickelten rollenden Gefäß, um den Transport von Wasser in armen Gegenden zu erleichtern. Eine echte Masterdrum. Sehr lesenswert.

Freitag, 16. Juli 2010

Mit den Füßen singen


Zwei Frauen tanzen auf einem Klavier.


Gefunden bei bookofjoe.

Dem Joe sein Buch ist ganz wunderbar zum Durchblättern, zum Entspannen, zum Lächeln und immer gut für eine Überraschung. So auch diesmal.

Sagt der Joe:
I can't speak for you, but I really, really liked it.
So do I.

Donnerstag, 15. Juli 2010

Konstruktiv gezischt


Meine Prekarisierung schreitet unaufhaltsam fort. Genauer gesagt, die Prekarisierung meines Sprachgebrauches. Oder sagt man in dem Fall Proletarisierung? Sei's drum, ob Prole oder Preka, mein heutiges Thema heißt Selbstbehauptung.

Was war ich früher für ein diplomatischer Mensch gewesen. Immer auf gütliche Einigung bedacht, immer schön auf Ich-Botschaften geachtet, immer den anderen ausreden lassen und solche Geschichten. Gut, vielleicht gelang es mir nicht immer, aber zumindest bemüht habe ich mich meistens. Vor Urzeiten, die mir so lange her erscheinen, dass ich mich kaum mehr an sie erinnern kann, bin ich mal durch ein Stahlbad von, äh, wie hieß das noch gleich?...richtig, Konfliktmanagement hieß das, und Kommunikationstraining, und konstruktives Gesprächsverhalten und und und wie die alle geheißen haben - jedenfalls, durch so ein Stahlbad an Stuhlkreisen bin ich mal gegangen und hielt mich für einen tollen Fifi, der mit den diesbezüglichen Tricks vertraut und mit allen Wassern der Selbstbeherrschung gewaschen war.

Und heute? Mache ich kurzen Prozess. Kommt mir jemand dumm, gibt es unverzüglich einen auf die Mütze. Macht jemand Anstalten, mir die Butter vom Brot zu nehmen, haue ich ihm auf die Finger ohne Vorwarnung. Wie hieß das nochmal, Konflikte stets entemotionalisieren? Klingt heute für mich eher nach fettreduziertem Joghurt, welchen ich schon immer hasse wie die Pest. Auf De-eskalation (allein dieses Wortgebilde! wie das schon ausschaut!) bedacht sein? Nee, keine Zeit. Anbrennenlassen läuft nicht. Aufgeschoben wird nicht, und wer meint, wir müssten mal reden oder so, der kann das gleich haben, aber nicht mal, und oder so schon gar nicht. Hic Rhodos, hier wird gehüpft.

Wie ich darauf komme?

Heute hatte ich ein kleines Scharmützel (ist das nicht ein wundervolles Wort? Dagegen De-eskalation, pah!, geh mir fort) mit dem brasilianischen Bierlieferanten. Es war nicht das erste Scharmützel. Überhaupt scharmützele ich ziemlich viel mit den ganzen Lieferanten - muss sein, sonst kommt man unter die Räder. Ich bewege mich nun mal seit einiger Zeit viel in Kreisen und Schichten, wo Diplomatie als Schwäche ausgelegt wird. Das färbt ab.

Der Brasilianer ist einer, der eine große Klappe hat sowie eine Vorliebe für zotige Witze und der ständig latent auf Krawall gebürstet ist, aber auch einer, dem ich so schnell nichts übel nehme; nicht weil er Brasilianer ist, sondern weil er Bossa Nova liebt, genau wie ich (ist eh ein sonderbares Phänomen: Jemandem, der musikalisch so tickt wie ich, kann ich nicht wirklich böse sein, geht einfach nicht).

Aber heute hat der Brasilianer den Bogen überspannt. Er hatte sich den aus seiner Sicht günstigsten Moment ausgesucht - ich kam gerade mit einem Riesenberg getrockneter Wäsche in beiden Armen zur Tür herein, war also quasi wehrlos -, um mich anzuzwinkern und mir vertraulich zuzuraunen "ich muss dir was erzählen, was ganz Tolles, pass auf, gleich lachst du dich tot...". Frühzeitig roch ich den Braten. "Es waren einmal zwei süße kleine rote Kirschen...", begann er mit sprechenden Händen zu fabulieren.

Ich ließ die Pointe nicht zu und zischte ihn höflich an, ob es vielleicht sein könne, dass ihm jemand ins Hirn geschissen habe, was er weder verneinte noch bejahte, weil er zunächst damit beschäftigt war, seinen Unterkiefer wieder von unten nach oben zu bekommen. In der Zeit überlegte ich kurz, ob ich jetzt wohl ein wenig zu weit gegangen war und war auf fast alles gefasst. Auf alles, nur nicht darauf, dass der Brasilianer in ein bierbaucherschütterndes Gelächter ausbrach, den Daumen senkrecht in die Höhe hielt und anerkennend ausrief: "Bravo Chica! Du wirst erwachsen!"

Nun gut. Wird ja auch allmählich Zeit.



Mittwoch, 14. Juli 2010

Tue Gutes und lass es alle wissen


Gut ist uns nicht gut genug. Für die wirklich besten unter den wirklich guten Menschen hat Wonder-Tonic eine Serie von Stickern entworfen: Sticker zur Optimierung der sorgsamen Selbstinszenierung.

Wirklich gute Sticker sind das. Sie bringen das Beste an den guten Menschen gut zur Geltung, machen es gut sichtbar und bleiben gut haften. Zum Beispiel an panzerartigen Stadtfahrzeugen, für deren Kauf sicherlich irgendwo im Regenwald ein Baum gepflanzt wurde (hier empfehlenswert: der erste Organic-Sticker in der oberen Dreierreihe). Oder gleich an die Stirn von Leuten geklebt, die Konsum als selbstdarstellerische Gewissenspflege betreiben:
Shopping for food and keeping a good conscience is hard. To help you out, the team at the WONDER-TONIC Organic Approval Committee have released a downloadable set of 16 stickers to let you label your favorite foods, books and appliances as organic. Just print them out, stick them on, and start feeling good about yourself!
Mir gefällt am besten der mittlere Sticker in der Dreierreihe: This animal died out of choice, etwa: Dieses Tier starb auf bewusst-alternativem Wege.
Bitte ein halbes Kilo organisch gestorbenes Rindersteak.


(Sagt man Stickers im Plural? Oder bleibt es bei Sticker? Oder bleibt mir das so egal wie ein Fliegenfurz, solange es weiterhin so heiß bleibt?)

Dienstag, 13. Juli 2010

African Ginger Ale


Dieser dauernde Durst kann einem auf den Wecker gehen. Man trinkt und trinkt und hat trotzdem Durst oder immer noch Durst oder schon wieder Durst. Irgendwie ist das viele Trinken auch anstrengend, finde ich, dieses ständige Hängen an einer Wasserflasche, diese riesengroßen nimmersatten Schlucke, dieses Gegluckere und Geschwappe im Bauch, und dann schließlich dieses - ja sorry, gell, aber so ist es - Rülpsen. Das muss ja dann auch irgendwohin, nicht wahr. Und was kommt am Ende bei alldem heraus? Nichts als neuer Durst.

Mitleidig beobachtete mich heute die senegalesische Küchenhilfe, als ich wieder mal gierig und endlos lange an der Wasserflasche hing und mich hernach, erschöpft schnaufend, an den großen Kühlschrank lehnte. "Machst du falsch", meinte sie kopfschüttelnd, "wenn trinken, dann rrrichtig!", mit diesem wunderschön hart gerollten und anschließend fast ausgespuckten R. Sie reichte mir ein Glas mit Flüssigkeit und vielen Eiswürfeln.

Ich roch daran. Es roch umwerfend gut. Würzig, kräftig, irgendwie krautig, aber doch fruchtig und so, dass es beim Schnuppern die Nasenschleimhäute aufs angenehmste erfrischte und kühlte.

Ich nippte daran. Es schmeckte noch umwerfender. Würzig, kräftig, krautig, fruchtig, eigenwillig, frisch, eiskalt, süß - und scharf wie die Hölle. Oh Herr, war das scharf. Es war Ingwer.

Muss man mögen. Wer Ingwer mag, wird das Getränk lieben. Schon ein kleiner Schluck löscht das Durstgefühl; was bleibt, ist reiner Genuss. Dieses göttliche Gesöff lässt sich nur in ganz kleinen Schlucken genießen, sonst steigt dem Trinker ein feuerspuckender Drache aus dem Rachen. Hält er, der Trinker, dagegen ihn, den Drachen, in Zaum, verwandelt sich das spontane Brennen im Hals blitzschnell in eine kühle, klare, saubere Schärfe. Und das nachhaltig: Diese kalte Tiefenschärfe im Schlund bleibt noch lange bestehen; sie ist die reine Wohltat. Bei jedem Atemzug, bei jedem Sprechen oder Schlucken ist sie zu spüren.

Klingt jetzt fast nach Drogenerlebnis, aber so viel ich weiß, ist Ingwer im pharmazeutischen Sinne eine Droge, oder halt Arznei, was ja ein und dasselbe ist und mir außerdem egal bei der Hitze.

Der langen Rede kurze Zubereitung oder wie aus einer braunen Knolle ein süchtigmachender Longdrink wird:

Die ungeschälten Ingwerknollen grob zerhackt in den Mixer geben und pürieren.
Das Ingwerpüree in einen Krug füllen und mit kaltem Wasser aufgießen.
Zehn Minuten ziehen lassen. Während des Ziehens immer wieder dran schnuppern, zum Zwecke des vorzeitigen Highwerdens.
Das Püree in einem Sieb auffangen - fertig ist der Ingwersaft.
Viel Eiswürfel ins Glas.
Viel Zucker ins Glas.
Heftig umrühren.
In kleinen Schlucken schlürfen.
Beim Ausatmen kräftig hecheln.
Laute des Wohlbehagens ausstoßen.
Je nach Geschmack ein wenig von dem Ingwerpüree mit ins Glas geben, gut umrühren, in sehr kleinen Schlucken schlürfen.
Beim Ausatmen noch kräftiger hecheln.
Noch lautere Laute des Wohlbehagens ausstoßen.
Lustvoll feststellen, dass man schon wieder Opfer einer Sucht geworden ist.

Montag, 12. Juli 2010

Wetterstation



No spirit, no glory.

Sonntag, 11. Juli 2010

Strong Tobacco


Starker Stoff:
That they're no longer getting government handouts means, of course, that they're no longer unemployed - if you're a member of the Goebbels Media, which both the Department of Labor and the mainstream press appear to be.
So sarkastisch kommentiert der Wirtschaftsblogger Karl Denninger vom Market Ticker den Hype, den die kürzlich veröffentlichten - angeblich gesunkenen - Arbeitslosenzahlen in Amerika ausgelöst haben (Titel: Jobless Benefits Not Extended, Market Roars!, in etwa: Kein Geld mehr für die Arbeitslosen, und schon brüllt der Markt).

Vor kurzem war eine Verlängerung des Bezugs von Arbeitslosengeld vom amerikanischen Kongress abgelehnt worden; eine vorausschauende Entscheidung mit Sinn fürs Praktische, denn wem jetzt - nach in Amerika üblichen 99 Wochen - das Arbeitslosengeld gestrichen wird, der gilt damit als nicht mehr arbeitslos und wird von der Statistik nicht mehr geführt. Das lässt die Statistik hübsch aussehen, und das muss der Kongress jetzt feiern. Der Markt auch. Die Medien erst recht.

Denninger nennt sie Goebbels 'reporters'. Darf der das?

Samstag, 10. Juli 2010

Teil der Gesellschaft


Es gibt Geschichten, die schreibt nur das Leben. Da geht einem Zeitungsfotografen die Waschmaschine kaputt, weshalb er sich in den Waschsalon begibt, wo das wirklich Leben tobt. Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit er seine Wäsche hinbringt - immer trifft er dort auf ein und dieselbe Putzfrau und wundert sich. Eines Tages fasst sich der Fotograf ein Herz und fragt die Putzfrau, wieviel sie eigentlich arbeite, und die Putzfrau antwortet "eigentlich immer". Das müsste für eine Story reichen, denkt sich der Mann. Wenig später rückt er mit einer Kollegin aus dem SZ-Magazin bei Petra Steingart (Name der Putzfrau) an. Einfach sei das nicht gewesen, lässt uns das Magazin im Abspann wissen: Für das Interview habe Frau Steingart sich "viel Zeit freischaufeln und Termine umschichten müssen", Putztermine wohlgemerkt, denn die Frau arbeitet im Schnitt 17 Stunden am Tag, manchmal werden es auch 19.

Das sei der "Terminkalender eines Managers" heißt es im ersten Satz des Vorspanns anerkennend, wenn auch nur für "einen Lohn, der gerade zum Überleben reicht". Keine Ahnung, wieviele Manager mit einem 17- bis 19-Stunden-Arbeitstag das SZ-Magazin schon interviewt und porträtiert hat (ich kann mich an keines erinnern), aber egal, Hauptsache, man hat eine griffige Einstiegsphrase, die einem im zweiten Satz erlaubt, noch tiefer ins Klischeeklo zu greifen und unsagbar dämliche Pseudoalternativen zu konstruieren:
Ist sie ein Vorbild? Oder ein Opfer unserer Zeit?
Nach diesem Vorspann war mir schon klar, dass die Lektüre des kompletten Artikels mir vermutlich den Samstagmorgen vermiesen würde, und so kam es. Bei immerhin vier Stunden Putzen täglich fragte ich mich zunächst, ob vielleicht auch ich "ein Opfer unserer Zeit" geworden sei oder gar "ein Vorbild" verkörpere. Als semantisch sensible Putzfrau scheiterte ich schon an den Begrifflichkeiten: Unsere Zeit? Wessen Zeit? Überhaupt, welche Zeit? Wäre System nicht angebrachter? Oder loser statt Opfer, noch einfacher? Vorbild? Bitte für wen? Ganz konkret? Na? (Raten. Auflösung steht am Ende des Artikels.)

Vollends den Zahn der Reflektion gezogen hat mir dann der Satz: "Petra Steingart putzt nicht ein bisschen und nicht bloß so nebenbei", aha, verstanden, vermutlich war das mit dem Vorbild so gemeint, dass eine wie ich mit läppischen vier Stunden täglich sich mal eine 17-Stunden-Malocherin zum Vorbild nehmen sollte. (Dachte ich zu dem Zeitpunkt, aber da hatte ich ja den Artikel noch nicht zu Ende gelesen.)

Trotz ihres harten Arbeitspensums, erfahren wir,
...will Petra Steingart ein anständiges Leben führen: Arbeitslosigkeit, Hartz IV oder andere staatliche Unterstützung kämen für sie nicht infrage. 'Dann arbeite ich lieber wie ein Tier.'
Ah ja, nun kommt der Leser auf die richtige Spur: Nur wer bereit ist, wie ein Tier zu arbeiten, kann/darf ein anständiges Leben führen - wer hat das jetzt gesagt, die Interviewte oder die SZ-Redakteurin?

Ach, man wüsste zu gern, welche Worte tatsächlich von Frau Steingart stammen, welche ihr in den Mund gelegt wurden und welche aus den Ganglien der Autorin einfach so herauspurzelten. Mir fiel unangenehm auf, dass die spärlichen Originaltöne in dem ellenlangen Artikel nur mit der Lupe zu entdecken waren; da lobe ich mir jenes andere Porträt einer Putzfrau, wo nur und ausschließlich die Befragte selbst zu Wort kommt, wo niemand wie wild herum kommentiert und interpretiert und raunt und deutelt. Im Falle des SZ-Magazins wüsste ich schon gern, wer hier eigentlich die Ideologieproduzentin ist, die befragte Putzfrau oder die Redakteurin?

So etwas zum Beispiel lese ich lieber im Originalton und frage mich, wieso die Autorin ihn mir vorenthält:
Sie kenne viele Menschen, sagt sie, die ähnlich hart arbeiten wie sie. Die zwei, drei Jobs haben, um sich ihr Leben finanzieren zu können, als Kfz-Mechaniker, im Sicherheitsdienst, im Supermarkt. Die bloß nicht runter wollen, nicht zu Hartz IV, in die Trägheit, ins menschliche Aus. Wie ein Monster hat sich Hartz IV im Leben der Menschen aufgebaut. Hartz IV heißt Stillstand, Arbeit heißt Fortkommen, Teil der Gesellschaft sein. Petra Steingart hat sich für diesen Weg entschieden, und sie geht ihn...
...und das SZ-Magazin hat sich für den Weg der höheren Leserverarschung entschieden und geht ihn, indem es versäumt mir zu erklären, wie das funktioniert, "Teil der Gesellschaft sein" bei einem (Minimum) 17-Arbeitsstundentag. Wie schafft es die Marathonputzfrau, in den verbleibenden fünf bis sieben Stunden sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen?

Für Frau Steingart ist die Sache klar: Am liebsten nutzt sie die wenigen freien Stunden zum Schlafen. Lieber schläft sie als etwas zu essen. Schlafen und Arbeiten sind ihr wichtiger als Essen.

Für das SZ-Magazin ist die Sache auch klar: Die Story ist im Kasten - jetzt noch ein fetziger Schluss! Was eignet sich dafür besser als eine weitere haarsträubende, dem Leser die Socken ausziehende Pseudoalternative?
Ist sie, Petra Weingart, das Arbeitstier, die 85-Stunden-Frau, eine Heldin unserer Zeit?
Drunter ging's nicht. Heldin. Unserer. Zeit. Aua. Aua. Aua.

Arbeitslose, nehmt euch ein Beispiel, werdet Teil der Gesellschaft. Heldin unserer Zeit...Helden der Arbeit...alles schon mal dagewesen, irgendwann, irgendwo.

Oder? Oder was? Wo bleibt das rhetorische Gegenstück zum aufgepumpten Heldenpathos?
Im larmoyant-langweiligen Sozialpädagogensingsang:
Oder ein Opfer ungerechter Verhältnisse?
Sammer a bisserl betroffen, sammer a bisserl mitfühlend. Passt scho. Nur, das mit dem Heroisieren rockt halt a bisserl mehr, verstehn's.


Freitag, 9. Juli 2010

Geld stinkt


Man hat ja schon viel gehört über sogenanntes Dirty Money und das damit zusammenhängende Phänomen der Geldwäsche. Trotzdem hält sich bis heute hartnäckig das Gerücht, dass Geld nicht stinke.

Alles falsch. Gerade weil Geld so fürchterlich stinkt, muss es gewaschen werden, und zwar am besten mit Seife und Wasser. Also ab in den Schongang damit - nur beim Trockenschleudern muss man ein bisschen aufpassen. Sonst zerbeult es den staatstragenden Kopf von George Washington und die frischgewaschene Dollarnote riecht zwar schön sauber, eignet sich aber nicht mehr zum Weiterverschleudern.

In Zimbabwe, wo der amerikanische Dollar gesetzliches Zahlungsmittel ist, werden vorzugsweise Eindollarnoten in die Waschmaschine gesteckt. Logisch, denn Kleingeld ist nun mal am meisten verschmutzt, da es täglich durch unzählige Hände gewandert ist; aber eben nicht nur durch unzählige Hände, sondern durch ebenso viele Unterhosen und Socken, nämlich selbige Teile, welche direkt am Leib getragen werden: sichere Geldaufbewahrung durch körpernahes Tragen. Naturgemäß kommt es dabei zu starker Geruchsbildung.

Die stinkenden Geldscheine alternativ durch neue zu ersetzen, käme (und kommt) vielleicht als Option im Heimatland des US-Dollars in Frage, nicht jedoch im fernen Afrika. Wer sollte dort auch die Druckmaschinen anwerfen? Dann schon lieber die Waschmaschinen. Außerdem haben die Zimbabwer ihre Erfahrung mit den Tücken beliebig nachgedruckten Geldes: Der letztes Jahr noch als Landeswährung geltende Zimbabwe-Dollar war am Schluss so reichlich in Umlauf, dass er nichts mehr wert war. Da stieß sogar die ausgeprägte Improvisationsfreude der Zimbabwer an ihre Grenzen:

via LOLFed
Selbst als Klopapier durften die Banknoten nicht mehr benutzt werden.

Es stinkt doch, das Geld.

Donnerstag, 8. Juli 2010

Wechselnd zwischen Freud und Leid


War ja klar, was heute Thema Nummer Eins war: die Schmach von gestern abend. Im Restaurant hatte es Public Viewing gegeben - wegen der hohen Temperaturen auch im Freien -, also vor, hinter, neben dem Restaurant sowie auf der (inzwischen autofreien) Straße. Es muss ein gigantisches Massenspektakel gewesen sein. Unglaublich viel Leergut heute früh.

Ich selbst hatte mich gestern abend dem Public Listening hingegeben: Dachterrasse, kühle Getränke, laues Lüftchen, Stille. Rundherum öffentliche Stille. Es herrschte von halb neun bis halb elf draußen eine solche Grabesstille, dass man keine Leinwand und keinen Bildschirm brauchte, um zu wissen, wie das Spiel lief. Nur einmal erklang von ferne eine kleine fröhliche Vuvuzela-Fanfare, die kam aus der Richtung, wo unser Viertel eine spanisch-brasilianische Bar beherbergt. Danach war wieder Stille. Der Stadtteil lag in gelähmtem Entsetzen, von dem er sich die ganze Nacht nicht erholte.

Beim Public Viewing vor dem Restaurant soll es ebenfalls gespenstisch ruhig gewesen sein; nur hin und wieder ein unterdrücktes Stöhnen, die Andeutung eines leisen Ächzens, ansonsten Grabesstille. Als das Tor fiel, muss die ohnehin nicht vorhandene Geräuschkulisse förmlich implodiert sein, und ein kollektives stummes In-sich-zusammensacken begann.

Zeitgleich jedoch zerriss vom ersten Stock des Restaurantgebäudes ein markerschütternder Schrei die Stille, was die paralysierte Masse vor dem Haus zunächst erschrecken, dann laut aufstöhnen ließ - das Stöhnen soll so ähnlich geklungen haben wie ein langgezogenes kollektives "Oh neiiin!"

Erzählt hat mir das heute die spanische Aushilfsputzfrau, die über dem Restaurant wohnt und das Halbfinale vom Balkon aus verfolgt hatte, gemeinsam mit ihrem spanischen Mann. Die beiden hätten, völlig überadrenalisiert, das (aus ihrer Sicht) unglaublich spannende Spiel mit angehaltenen Atem durchgezittert, seien fix und fertig mit den Nerven gewesen, bis schließlich das Tor gefallen sei und die spanischen Eheleute sich nur noch laut brüllend des unsäglichen Drucks hätten entledigen können. Nie werde sie den fassungslosen Ausdruck in den Gesichtern der Menschenmenge vergessen, als alle wie gebannt zum Balkon hochgeschaut hätten.

"Tja", mischte sich der spanische Ehemann ein, der sich zu uns gesellt hatte und den ich wegen seiner lakonischen Art schätze, "Multikulti will gelernt sein."


Mittwoch, 7. Juli 2010

Ein Grund zur Aufregung


Man sollte bei diesem Wetter vermeiden sich aufzuregen. Sagte neulich bereits Frau Übermop und hatte damit recht wie fast meistens. Nur - was soll man machen? Wenn's kömmt, dann kömmt's, so ist das nun mal, und es hat sich noch kein Ärgernis dieser Welt ans Wetter gehalten. Mitunter kömmt es ganz dicke, und dann muss der Ärger raus, was natürlich zu vermehrtem Schwitzen führt, was ja wiederum gesund sein soll, auch wenn der vorbereitende Tobsuchtsanfall hitzebedingt als eher ungesund gilt.

Heute früh jedenfalls entschied ich mich fürs gesunde Schwitzen und nahm dafür den ungesunden, weil kreislaufgefährdenden Tobsuchtsanfall in Kauf. Der Anlass war nichtig, aber nichtsdestotrotz für Aufwallung sorgend, denn zu Arbeitsbeginn musste ich feststellen, dass irgendjemand mit meinen profilbildenden roten Schuhen (siehe Profilbild) Schindluder getrieben hatte, und da bin ich empfindlich. Obwohl die roten Schuhe naturgemäß ziemlich verschmutzt sind, gehören sie noch lange nicht in den Dreck geschmissen, was gewiss nicht aus Böswilligkeit geschah, vielmehr aus Hirnlosigkeit, im Resultat jedoch auf das Gleiche hinauslief: Ärger.

Ich schimpfte. Zwar laut, aber ganz normal halt. Ich schimpfte mir den Ärger von der Seele, und damit hätte es gut sein können, wenn nicht jemand den Fehler begangen hätte, mir zu unterstellen, ich sei es wohl selbst gewesen, die ihre Schuhe in den Dreck verschusselt habe, und der Unterstellung die Worte folgen ließ: "Kennt man ja von Putzfrauen!", was wiederum den ersten Tobsuchtsanfall des Tages folgen ließ. (Böse Zungen behaupten ja, Putzfrauen würden in Wirklichkeit dazu gebraucht, das mysteriöse Verschwinden von Familienschmuck, Tafelsilber und Tresorinhalten zu erklären; das bisschen Putzen diene lediglich der Verschleierung jenes peinlichen Sachverhaltes.) Das war um zehn nach sieben. Gut, da war es noch nicht soo heiß, also wird es auch nicht so furchtbar ungesund gewesen sein. Auf alle Fälle fühlte es sich hinterher gesund an.

Drei Stunden später, bei brütender Hitze, der zweite Tobsuchtsanfall. Mit dem randvollen Flaschenboy im Anschlag nähere ich mich dem Altglascontainer. Sehe von weitem, dass zwei Hundebesitzerinnen sich direkt vor den Containern angeregt unterhalten, während ihre voluminösen Haustiere auf dem schattigen Boden kauern. Sehe aus der Nähe, dass die beiden Köter nicht etwa kauern, sondern im Begriff sind, sich auf typische Weise zu krümmen. Während der eine von beiden bereits dampfendes Zeugnis seiner Notdurft abgelegt hatte und zu einem Nachschlag sich krümmte, war der andere noch ganz mit den die Entleerung vorbereitenden Darmverkrümmungen beschäftigt. All dies unmittelbar vor den Einwurflöchern der Container. Es roch nach Ärger.

Ich schimpfte. Zwar laut, aber ganz normal halt. Damit hätte es gut sein können, wenn nicht die eine der beiden Hundebesitzerinnen an mein Verständnis appelliert hätte, dass den Hunden die Hitze ebenso zusetze wie den Menschen, weshalb Hunde nun mal gern den Schatten aufsuchten. Sie tat dies durchaus maßlos und keinen Widerspruch duldend, wie man es eigentlich nur von Hundebesitzern kennt. Ich erklärte ihr, dass ich den Glascontainer nicht wegen seiner Schattenspende aufsuchte und mich von der Verbindung Schatten/Scheiße an meiner Arbeit gehindert sähe. Ich tat dies durchaus streng und keinen Widerspruch duldend, wie man es eigentlich von einer Putzfrau nicht so kennt. Und halt ein wenig lauter, aber immer noch normal.

Damit hätte es gut sein können, wenn nicht die andere Hundebesitzerin den Fehler begangen hätte, mich abschätzig von unten (ultraverdreckte rote Schuhe, verschmutzte Schürze) bis oben (Arbeitshandschuhe, fleckige Kappe) zu mustern und mich zu fragen: "Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?", worauf der nächste Tobsuchtsanfall seinen Lauf nahm. Die beiden Frauen reagierten perplex, aber noch perplexer die Hunde: Sie schienen beide in ihrer gekrümmten Position zu erstarren, der eine mit geducktem Kopf, der andere böse zu mir nach oben spähend und dabei anhaltend knurrend.

Wenn ich heute eines gelernt habe, dann dies: Knurrende Hunde scheißen nicht. Sie mögen beißen, aber zu scheißen vermögen sie nicht, solange sie knurren. Was mich mit besonders genussvoller Schadenfreude erfüllte, war der Umstand, dass der knurrende der beiden Hunde derjenige mit dem trägen Darm war, mithin derjenige, der sich von dessen Inhalt noch nicht emanzipiert hatte. Krampf und Krümmung bei gleichzeitigem Knurren machten ihn völlig obstipat. Der zweite Hund zerrte mit gekrümmtem Rücken an der Leine, strebte weg von Tatort, Ersthaufen sowie einer randalierenden Mrs. Mop, die jeden ihrer Sätze mit einem Flascheneinwurf in überdurchschnittlicher Lautstärke skandierte. Akustisch war ich ganz klar im Vorteil. Argumentativ sowieso. Und so rein allzumenschlich gesehen ging es mir auch nicht schlecht dabei. Außer dass ich tierisch geschwitzt habe.

Es waren wohl Selbstreinigungskräfte am Werk. Mein Putzjob zwingt mich zur Seelenhygiene. Und das ist gut so.