Sonntag, 4. September 2011

Killing us softly


(zum Vergrößern auf Link klicken)

Was passiert, wenn ein altgedienter neoliberaler Wirtschaftsjournalist wie aus heiterem Himmel eine pseudokritische rhetorische Frage stellt?
"Is austerity killing Europe's recovery?"
(Töten Sparmaßnahmen die wirtschaftliche Erholung Europas?)
Dann stürzen sich alle wie besessen auf den Artikel und schreien: Trendwende! Vernunft kehrt ein! Ein Umdenken in Sicht! Endlich! Kennt man ja von hierzulande, nur dass hierzulande die trendigen trendwendigen Artikel ein bisschen schöngeistiger daherkommen. Und dann alle so, auf die Frage des Autors: Ja! Endlich sagt es einer! Dass wir da nicht früher drauf gekommen sind!

Ich las die Überschrift und dachte zuerst: Ja. Dann dachte ich: Na ja. Dann fing ich an mich zu wundern und dachte: Welche Erholung?

Aber gut. Getreu dem Motto 'Tausend Lemminge können nicht irren' stürzte auch ich mich auf den Artikel von Howard Schneider in der Washington Post.
Die Einleitung klang gar nicht mal so schlecht:
"Nach über einem Jahr aggressiver Haushaltskürzungen seitens europäischer Regierungen konfrontiert die Wirtschaftsabschwächung auf dem Kontinent die Politiker von Madrid bis Frankfurt mit der unbequemen Frage: Sind sie dabei das falsche Problem angegangen?"
Yo, könnte man so sagen. Oder fragen. Man könnte auch fragen: Wie, die stellen sich diese Frage erst jetzt? Immerhin, besser jetzt als nie. Hauptsache, endlich kommt einer und identifiziert das (in dem Fall in Spanien) zugrundeliegende wirkliche Problem: die geplatzte Immobilienblase und die unrühmliche Rolle der Banken. Recht hat er, der Howard Schneider. Obwohl, eigentlich haben wir das schon länger gewusst. Egal. Jetzt warten wir gespannt auf Howards Lösungsvorschläge. Vielleicht irgend etwas mit Bankenkontrolle, oder sonst irgendwas Sinnvolles?

Oder auch nicht.
"Aber das überstürzte Reduzieren von Haushaltsdefiziten lenkt möglicherweise ab von politisch schwierigen strukturellen Entscheidungen, die nötig sind, um den Weg für wirtschaftliches Wachstum freizugeben."
Zugegeben, bis zu der Stelle war ich noch gespannt, was der Howard wohl so auf der Platte hat bezüglich "politisch schwieriger struktureller Entscheidungen". Doch dann folgte der Absturz und es wurde grausam:
"Diese (politisch schwierigen strukturellen Entscheidungen) könnten beinhalten: den Verkauf staatlicher/öffentlicher Unternehmen in Griechenland. Oder: den Zusammenschluss der Millionen italienischer Kleinunternehmen zu effizienteren Großunternehmen. In Spanien könnte die Macht der Gewerkschaften ausgebremst werden."
Ah, okay. Die Gewerkschaften sind an allem schuld. Die spanischen Gewerkschaften sind nämlich die eigentlich Verantwortlichen für die gecrashte Immobilienblase. Irgendjemand überrascht?

Und dann diese ineffizienten italienischen Kleinunternehmer! Sollten sich endlich mal ihren kleinteiligen regionalen dolce vita-Firlefanz abschminken und sich an McDo und WalMart ein Beispiel nehmen! Einfach alles outsourcen, wo sie gut drin sind, weg mit der Kultur, her mit den riesigen gesichtslosen Einkaufszentren, rutsch mir doch den Buckel (Apennin) und den Po (Fluss) runter!

Aber Hauptsache, endlich hat es mal einer gesagt. Wieder mal. Kaum steht irgendeine gefloppte neoliberale Null-Denke zur Disposition, wartet hinter der Tür schon der nächste neoliberale Knallkopf und läutet die nächste Trendwende mit der nächsten falschen Antwort ein. Das geht so weiter, keine Sorge, endlos. Denn hinter jeder Tür warten endlos viele korrupte Wirtschaftswissenschaftler und -journalisten auf ihren Einsatz, um uns die nächste Wahrheit über die Finanzkrise um die Ohren zu hauen: Die sozialen Sicherungssysteme sind an allem schuld; die Gewerkschaften; die viel zu teure Gesundheitsvorsorge; porschefahrende Hartz-IV-Empfänger; faule Griechen; zahlungssäumige spanische Hausbesitzer - ach, es gibt so unendlich viele Sündenböcke, die sich endlos ausschlachten lassen.

Alle sind an allem schuld. Alle, außer natürlich den Banken und Finanzcasinoexperten und den Messdienern aus der medialen Ökonomiebranche, die den Karren in den Dreck gefahren haben und jegliche Verantwortung weit von sich weisen. Obwohl sie die ganze Zeit hinterm Steuer gesessen sind.

8 Kommentare:

  1. Einen schönen guten Morgen, liebe Frau Mop, ich habe doch heute morgen schon etwas hellsichtigeres gelesen: unser Sonntag Morgenmagazin zitiert den CSU Abgeordneten Gauweiler aus der Welt am Sonntag, "die jetzige Politik laufe darauf hinaus, 25 oder 30 weltweit tätige Investmentbanken und ihre wahnwitzigen Geschäfte zu unterstützen".
    Lichte Momente in der sedierten deutschen Oeffentlichkeit sozusagen.
    Einen schönen Sonntag noch.

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  2. Der Gauweiler. Was für ein Pfiffikus. Hatte er doch glatt, O-Ton, einen "Radikalenerlass" für Investmentbankmanager vorgeschlagen. Ein Fall von Alterweisheit?

    Den Radikalenerlass gab es in den 70ern tatsächlich (als Folge der damaligen Studentenbewegung, die aus Gauweilers Sicht den Sozialismus anstrebte, weshalb Gauweiler 1968 der CSU beitrat), da konnte die Einstellung in den öffentlichen Dienst abgelehnt werden, wenn Zweifel an der Einstellung zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bestanden.

    Und mit seinem Banker-Radikalenerlass zieht jetzt der Gauweiler als Festredner durch die Bierzelte Bayerns. Mit Sepplhut und Lederhose. Hat aber noch nix dazu gesagt, ob sein Radikalenerlass auch für den Verwaltungsrat der BayernLB gelten soll. Wenn er nicht aufpasst, kriegt er demnächst selber einen RE ans Bein gebunden.

    Aber trotzdem, lustig ist er schon, der Gauweiler. Neulich hat er gesagt: "Die Eurorettung läuft wie Schneebälle rösten." Das ist einfach gut, da kann man nicht meckern.

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  3. @Frau Mop: "..demnächst selber einen RE ans Bein gebunden."

    Der Artikel ist doch schon etwas älter. In Erinnerung wird mir der Typ immer bleiben, weil er in den Achtzigern HIV-Infizierte wegschließen wollte.
    Wenn so einer mal einen ihm einleuchtenden Gedanken hat, dann hält er daran fest. Naja, bekanntlich sind csu Wähler ja dazu bereit, eine Besen zu wählen, wenn er entsprechend gekennzeichnet ist.

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  4. Ach ja, die lemminge,

    es gibt immer noch meine lieblingsgeschichte, die mir einst Ronald aus der DDR erzählte.

    Sei handelt von den lemmingen.
    Und die geht so.

    Der zug der lemminge ist unterwegs, zu tausenden bewegen sie sich auf ihr ende zu.
    Einer der lemminge, ein etwas schlaueres kerlchen fragt die, die neben ihm laufen: "He? Wo gehts denn hin?"

    Die antworten fröhlich: "Na vorwärts, natürlich!"

    Weiter laufen die lemminge, nun eine klippe hinauf. Der schlaue frägt nun, ob den mühen des aufstiegs: "Und jetzt? Wo gehts hin?"

    "Na aufwärts!" rufen die nachbarn euphorisch "Es geht aufwärts!"

    Und dann kurze zeit darauf, als der ganze zug die Klippe hinabstürzt ins bodenlose, ruft der kleine schlaue wieder: "Und jetzt?"

    "Na da siehste doch", rufen die anderen in grenzenlosem optimismus zurück, "jetzt fliegen wir".

    Und alles endet in einem großen platsch.

    gruß
    bel

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  5. @R@iner
    "schon etwas älter": In der Tat, das war ein Griff daneben, eigentlich hatte ich danach greifen wollen:

    “Das durften nicht einmal die Kaiser des Mittelalters bei den Fuggern” = Titel eines Interviews mit Gauweiler im BR, das - wohl wegen der "Radikalität" von Gauweilers Aussagen - vom BR eher "versteckt" wurde: "Man konnte es finden, wenn man suchen wollte und auch tat, was man wollte. Schriftliche Auszüge erschienen beim BR überhaupt nicht und in der Informationsindustrie nur spärlich."

    Und dann:
    "Es ist eine Sache, wenn jede einzelne politische Organisation in der Republik, die sich selbst unter dem Etikett “links”, “sozial”, “demokratisch” oder gar “fortschrittlich” verkauft, von einem konservativen bayrischen Abgeordneten links, sozial, demokratisch und fortschrittlich (und "radikal", Kommentar Mop) überholt wird. Daran hat man sich mittlerweile gewöhnt. Eine andere Sache ist, wenn schon die öffentlich-rechtliche Anstalt Bayrischer Rundfunk anfängt, ihre eigenen Interviews zu verstecken."

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  6. @bel
    He he.

    Und dann alle so: Dass wir da nicht früher drauf gekommen sind!

    Und dann alle so: platsch.

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  7. @mrs.mop

    jo, zeitweise erscheint mir die gegenwart wie ein lemmingzug, mal rennen sie aufwärts mal rennen sie vorwärts. ...

    Nur der große platsch ist bisher ausgeblieben, aber wie heißt es so schön: die oper ist erst zu ende wenn die dicken damen singen.

    gruß bel

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  8. @bel
    Das war jetzt aber wirklich brandaktuell!

    "Mein Opernglas ist auch schon leer,
    drum möcht' ich jetzt gehn!"

    :)

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